Servus Hellhuaber

– von Emma Tomps

Rezension des Romans „Servus Hellhuaber“ (Vindobona Verlag)

Emma Tomps‘ Roman „Servus Hellhuaber“, der einen atemlos zurücklässt, ist am Ende auch eine große Menschheitserzählung über Moral und Mut, die uns mahnend und schaudernd Erich Frieds großartiges Gedicht „Totschlagen“ in Erinnerung ruft: „Erst die Zeit / dann eine Fliege / vielleicht eine Maus / dann / möglichst viele Menschen…“ Man sollte diese Autorin, die jedes Lob verdient, aufmerksam lesen.

Leseprobe

Der Motor von Reutenbergers Motorrad verstummte beleidigt knatternd und Emma schoss durch den Kopf, dass er nicht angerufen hatte! Normalerweise kündigte sich „ihr Schulbulle“ an: „Gut – du bist da. Ich fahr gerade los und komm mal kurz vorbei.“ Eine unverrückbare Tatsache, aber diese Ankündigung verschaffte Emma zumindest ein paar Minuten Vorbereitungszeit, um sich der ausgebeulten, alten Jogginghose, der Garten- oder Putzklamotten zu entledigen und aus sich ein mehr oder weniger vorzeigbares Mädchen zu machen. Heute hatte er sie buchstäblich überrumpelt und so blieben ihr nur ein paar Augenblicke.

Emma dachte während der verbleibenden Zeit an vieles, nur nicht daran, aus sich ein „vorzeigbares Mädchen“ zu machen. Zweitrangig! Sie befürchtete eher, dass einer ihrer Schüler vielleicht etwas Schlimmes angestellt haben könnte. Manchmal war das, was die Kids ausfraßen eben kein „dicker Hund“ mehr, etwas, das in die Kategorie pubertierend dämlich, aber „nicht wirklich böse gemeint“ fiel, sondern war im wahrsten Sinne des Wortes richtig kleinkriminell. Ging über den manchmal auch derben Jugendstreich hinaus! Vielleicht Diebstahl? Oder Sachbeschädigung? Einbruch? Mobbing, schwere Körperverletzung oder gar ein Hausfriedensbruch? Emmas „Kinder“ hatten in den letzten Jahren immer wieder wegen dieser Delikte Bekanntschaft mit Reutenberger, der die Lizenz für die Jugend hatte, gemacht. Nüchtern betrachtet, war vieles denkbar. deshalb braute sich in ihr ein drückend schlechtes Bauchgefühl zusammen. In ihrem Kopf herrschte Chaos, das Gedankenkarussell fuhr im roten Bereich…

… und dann wurde ihr auf einmal furchtbar schwindlig. Auch, wenn in Sekunden Welten passen, hat unser Hirn Grenzen. Und diese hatte Emma überschritten. Die Masse der Gedanken, die nicht mehr denkbar war und deshalb auch nicht kontrollierbar, explodierte. Musste raus! Und aus allen Funken wuchsen Bilder: Sandra, die eine Toilettenschüssel mit ihrem ganzen Gewicht „abmontierte“ und dann den Rest demolierte, Tanja, die mit ihrem Handy gemeine Filmchen von den „Vollpfosten“ der Klasse ins Netz stellte, Alex, der mit ungebremster Wut die Tafel zertrümmerte, Tony, beim Einbrechen in den Computerraum. Es nahm kein Ende. Ein Vorfall jagte den nächsten. Wieviel Mist konnte man während einer Dienstzeit erleben und ertragen ohne „auszusteigen“ oder Schaden zu nehmen?

Mit jedem Erinnerungsbild, das sich blitzend aus dem Feuerwerk des Geistes materialisierte, eskalierte das Maß des Schreckens. Betti, die von drei Schülern vergewaltigt und schwer verletzt zurückgelassen worden war. Die Täter hatte Emma alle irgendwann einmal unterrichtet und gemocht. Unvorstellbar! Seyneb, die von Daniele fast zu Tode gewürgt worden war, nur weil sie zum falschen Zeitpunkt irgendwie falsch gegrinst hatte. Sara, die einer Schülerin den Finger abtrennte und eine Kippe damit ausdrückte, dass man ihn nicht mehr annähen konnte. Die ganze Gewalt und empathielose Bösartigkeit, die Emma mit eigenen Augen gesehen hatte, hatte sich farbenprächtig eingebrannt, verbunden mit tausenden Gefühlen. Das alles machte sich jetzt Luft.

Bei jedem neuen Vorfall dachte sich Emma: „Schlimmer kann es nicht mehr kommen!“ und wurde stets eines Besseren belehrt. Immer gab es eine „Toppung“. Ein „richtiger Psycho“, bei dem sie absolut nichts mehr „richten“ konnte, war allerdings nur einmal in ihre Klasse gegangen. Herbert! Gefährlich! Unberechenbar und tödlich! Plötzlich raste ein Bild – sein Rahmen brannte – auf sie zu und trotzdem dehnte sich irgendwie die Zeit, so dass Emma ihre gesamte Aufmerksamkeit auf dieses Eine richten konnte. Ein Bild des Tages, der so viel verändert hatte. Platz eins auf ihrer Liste des Schreckens.

Emma versuchte „diesen Tag“, der sie immer noch in ihren Träumen heimsuchte, – jedes Mal eine neue Variante des Horrors, und doch immer gleich am Ende – Tod und schwarze Verzweiflung – so gut wie möglich zu verdrängen. Doch plötzlich war das alles wieder da. Zwei eisblaue, empathielose Augen starrten ihr entgegen, blitzten vor Mordlust – und von einer Sekunde auf die andere – Zeitsprung – stand Emma wieder wie versteinert da – stierte fassungslos in die Mündung der Beretta. Ein schwarzes Loch, in dem die Welt zusammenfiel. Herbert, war wiedergekommen, um zu töten. Das war das einzige, das sie jetzt wusste.

Flashback

Ihr erster! Wie aus dem Nichts gekommen, Aber das begriff sie erst später, als Reutenberger wieder weg war und sie über das, was sie davor erlebt – wieder erlebt hatte – als eine Art Déjà-vu – nachdachte. Und das war schon etwas Besonderes, denn Emmas „normale“ Strategie zur Verarbeitung der Geschehnisse des überlebten Amoklaufs war simpel: Keinen falls darüber nachdenken! Vorbei war schließlich vorbei. Einfach alles herunterspielen und verdrängen! Einfach nicht mehr an die endlosen Minuten denken, als sie nicht wusste, wie das ausgehen, wer sterben würde. Einfach diesen Moment der totalen Machtlosigkeit, der sie an den Rand des Wahnsinns und dann fast zu einer unvorstellbaren Tat getrieben hatte, verdrängen. Einfach so tun, als hätte diese grässliche Panik und die bisher ungekannte Angst – eine blutrote Todesangst – nur in einem ihrer Träume existiert. Wenn man aufwacht, ist alles vorbei und bald vergessen. Sagt man zumindest.

Doch das Verdrängen klappte nur bedingt, obwohl „schon so viel Zeit verstrichen“ war. Etwas war zurückgeblieben. Ein schwarzer Schatten, in einer Ecke des Verstandes lauernd, auf dunkle Tage, um sich übermächtig auszubreiten. Wenn er seine Chance sah, kam mit den ersten Schwaden auch die Angst, die Emma drängte, sich schleunigst zu verstecken, und dann, wenn das Schwarz das letzte Licht gefressen, schlug heiße Panik zu – dass es dieses Mal anders ausging, das Böse siegte. Festgeklebt für das, was kommt. Ja, das war ihr „Päckchen Trauma“, gefüllt mit penetrantem Müll, den „dieser Tag“ und hundert andere zurückgelassen hatten. Aber ein Flashback – das gab dem Päckchen eine andere, grauenvolle Dimension.

Schon kurz nach dem Amoklauf spürte Emma, dass etwas zurückgeblieben war, nur welches Gewicht ihr „Päckchen“ hatte, das konnte sie nicht abschätzen. Ein bisschen war nach dem, was sie erlebt hatte, wahrscheinloch völlig normal und sicherlich vertretbar. Wenn sie allerdings weiter hundertprozentig ihrer Berufung nachgehen und Lehrer sein wollte, musste sie die Dimension dessen, was geblieben war, prüfen und dann, ob sie wie früher „fehlerfrei funktionieren“ konnte. Ihrer Meinung nach ging das nur auf eine Weise: Sie musste sich „Herbert“ noch einmal stellen. Und all dem, was vorgefallen war. Reflektierend! Ungeschminkt und mit einem tiefen, ehrlichen Blick in ihre Seele.

Am Freitag, ein paar Tage nach „der Sache mit Herbert“, begannen die Ferien. Bis dahin hatte sie sich einfach hintenangestellt, war für die traumatisierten Kinder da gewesen. Aber jetzt war der absolut richtige Zeitpunkt gekommen, um den Fokus auf sich selbst zu richten und die Frage des dauerhaften Funktionierens zu klären. Kein Aufschieben mehr! Sie brauchte Klarheit, ob sie das alles packte. Um Mitternacht hatte sich Emma deshalb alleine zur Schule aufgemacht. Niemand wäre im Gebäude, es gäbe keine Ablenkungen, nichts, dass sie bei dem, was sie vorhatte, stören würde. Reutenberger hatte sie informiert, falls ein besorgter Nachbar bei der Polizei anrief, da jemand nachts durch die Gänge streifte. Nach dem Amoklauf war man sensibel in solchen Dingen geworden.

Ihre Hand zitterte so stark, dass sie ein paar Anläufe brauchte, um die Türe des Lehrereingangs aufzuschließen. Nachdem sie sich nach allen Seiten umgesehen hatte, betrat Emma mit klopfendem Herzen das Schulgebäude. Schnell schlug sie die Türe hinter sich zu – sie wollte nichts mit hereinbringen. Der laute Knall fuhr ihr durch Mark und Bein. Erschrocken drückte Emma den Rücken an das kalte Metall der Türe, mit ihrem Fluchtweg noch sicher verwachsen. Sie atmete tief, doch alles in ihr schlug weiter Kapriolen. Emma dachte sich, dass sie sich ganz einfach umdrehen und wieder gehen konnte. Mit eindringlich glucksend heller Stimme meldete sich ihr innerer Teufel. Verführerisch flüsterte er, dass sie sich diesen Mist wirklich nicht antun musste: „Das hier brauchst du nicht! Geh heim! Versteck dich! Da bist du sicher! Du hast ja keine Ahnung…“ Und Emma zog es ernsthaft in Erwägung. Vorübergehend wäre das die einfachere Lösung gewesen.

Aber sie wollte das doch so sehr! Also ließ sie ihren Blick schweifen, löste ihn als erstes aus der Erstarrung. Links führte eine Treppe in den Keller. Schon nach ein paar Stufen verschwand sie in der Finsternis. Ein perfektes Versteck, für alles, das Angst machte, für alles, das aus dem Erlebten und ihren Träumen zurückgeblieben war. Nein! Emma schaute weg. Ermahnte sich, einen logisch klaren Kopf zu behalten, sich nicht ins Land der dunklen Vorstellungen ziehen zu lassen. Von ihrem Vorsatz „es zu schaffen“ angetrieben, trennte sie die Verbindung zu „ihrem Fluchtweg“ und lief wie ferngesteuert los. Wenn sie schon hier scheiterte, konnte sie ihren Beruf gleich an den Nagel hängen. Sie musste es wenigstens versuchen! Trotzdem konnte sie das Gefühl, etwas Kaltes im Nacken zu haben, das sie zurück halten wollte und nach ihr griff, deutlich spüren. Eine Gänsehaut lief ihren ganzen Körper entlang.

Im Schulhaus war es düster, nur ein paar „Notlampen“ verbreiteten ein seltsames Zwielicht. Doch sie kannte ja den Weg, war ihn tausende Male gegangen. Am Lehrerzimmer vorbei, in die Aula. Sie streifte mit den Fingern an der Wand entlang, fühlte die mindestens hundert Mal gestrichene Raufasertapete, roch den typischen Geruch ihrer Schule. All das war vertraut, gab ihr Sicherheit. In Lesenächten hatte Emma stets genossen, wenn so etwa um vier Uhr alle endlich mehr oder weniger auf ihren Luftmatratzen lagen und sie ihre Kontrollgänge in absoluter Ruhe, mit gedämpftem Licht durchführen konnte. Da „kam sie runter“, von den Aufregungen der nicht endend wollenden Lesenacht. Auch wenn sie Sterbens müde war und sich am liebsten auf die harten Bänke gelegt und sofort eingeschlafen wäre. In dieser Atmosphäre konnte sie wieder auftanken, um auch den Morgen nach einer Lesenacht zu überstehen.

Bis auf die unterschwelligen Geräusche, die latent immer vorhanden, aber normalerweise nicht wahrgenommen werden, wie beispielsweise das Summen der Lampen, das die gleiche, beruhigende Wirkung wie das stetige Schnurren ihrer Katzen hatte, und das Glucksen des Getränkeautomaten, war es totenstill. Emma mobilisierte sämtliche Sinne, nahm ganz bewusst diese sonst so beruhigende Atmosphäre auf. Doch das Gefühl, hier geborgen und gut aufgehoben zu sein, stellte sich nicht ein. Die vertraute Umgebung, Gerüche und Geräusche, die manchmal schon ausreichten, etwas Früheres zurück zu holen, versagten total. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sich die Welt weitergedreht und verwehrte ihr den Rückgriff auf Vergangenes. Das „Waltons Feeling“ war geplatzt – ja – das war Herberts Verdienst. Die schrecklichen Erinnerungen geisterten noch immer herum und das Gefühl, hier sicher zu sein, war verpufft.

Weg! Einfach weg! Geblieben war etwas zutiefst Beunruhigendes! Emma war zum Heulen, doch sie versuchte sich Mut zu machen. Nur, weil jetzt etwas anders war, hieß das ja nicht, dass sich gleich alles ändern musste. Das geplatzte „Waltons Feeling“ war nur ein Teil vom Ganzen. Ein Leben war vielschichtig. Dinge änderten sich eben. Etwas Neues, Anderes hieß ja nicht, dass sie nicht damit fertig werden, sich nicht anpassen konnte! Das Leben ist keine Konservendose! Jeder muss täglich ein neu erfundenes Süppchen kochen und den Kritikern entgegentreten. Und sich selbst! Verdammt! Das hatte Emma doch nicht erfunden, hatte kein Patent drauf! Das passierte jedem. Leben heißt Veränderung! Reiß dich zusammen! Bullshit!

Traurig und ihrer Sicherheit beraubt, stand sie da, ließ ihren Blick in der Aula umherschweifen, die so vertraut und plötzlich so anders geworden war. Dann wurde Emma schlecht. Es fühlte sich an, als wäre der Moment, sich übergeben zu müssen, nicht mehr weit. Da war dieser widerliche Geschmack im Mund! So, als hätte sie die Nacht durchgesoffen. Irgendwie wie alte Socken. Und dann fiel es Emma wie Schuppen von den Augen. Kurz bevor Herbert durch die Klassenzimmertür stürmte, war es ihr genauso schlecht gewesen, hatte sie den gleichen ekelhaften Geschmack im Mund gehabt. Das war echt krass. Und plötzlich musste sie laut lachen. Prima! Wenn ihr in Zukunft immer schlecht wurde, wenn sie die Aula betrat, konnte sie sich endlich vor der Pausenhausaufsicht drücken. Na ihren schwarzen Humor hatte sie definitiv nicht verloren – und war das nicht schon die halbe Miete? Emma versuchte, das alles hier etwas „zu relativieren“.

Fakt war, dass sie einiges hinter sich hatte. Da durfte einem auch mal schlecht sein. Die letzten Tage hatte Emma bis auf kurze, bewusstlose Phasen weder richtig geschlafen, noch war sie irgendwie zur Ruhe gekommen. Polizei, Kriseninterventionsteam, Psychologen, traumatisierte Kinder, besorgte Eltern. Dann ein paar schwarze Schafe der Presse. Sie klebten den Kindern buchstäblich am Arsch und kletterten sogar über die Schulmauer: Sag mir, was ich wissen will, was ich hören möchte, dann bekommst du die zweite Hälfte des Geldscheins. Mit dem anderen wedelten sie den Kindern vor der Nase herum. Unfassbar!

Hier gab es nichts mehr zu tun, deshalb verließ Emma die Aula, durch die große Glastür, am Elternsprech- und Krankenzimmer vorbei. Dann noch eine Glastür, alles durchsichtig – gläsern. Und plötzlich erschien Emma diese Tatsache als gravierendes Problem. Welche Berechtigung hatten diese Türen, so zerbrechlich und durchlässig wie sie waren? Unter Tags konnte jeder herein, der das wollte. Nicht jeder hatte Gutes im Sinn. War das vielleicht beruhigend?