Kapitel II – Astronom wider Willen

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Venedig, Dogenpalast,

1456 anno Domini, Sommeranfang

Drei geschlagene Stunden wartete Giovanni Patroni bereits auf seine Audienz beim Dogen. Und dass, obwohl er doch der ausgewiesene und sicher sehr ehrenhafte Haus- und Hofastronom war und damit gleichfalls ein hohes Amt im Fürstentum Venedig bekleidete.

Als Giovanni Patroni vor etwa drei Jahren von einer seiner vielen Reisen zurückgekehrt war, beschäftigte er sich fast ausschließlich mit der Beobachtung der Gestirne und dem Lauf der Planeten. Noch ein paar Jahre zuvor hatte er diesem Gebiet der Wissenschaft kaum Beachtung geschenkt, und stattdessen nur seiner Leidenschaft gefrönt – der Chemie und ein wenig auch der Alchimie.

Eigentlich ist „wenig“ maßlos untertrieben, denn Giovanni war ein ausgezeichneter Alchimist, doch die Tatsache, dass er durch seine neuerlichen Himmelsbeobachtungen zu einem hervorragenden Sterndeuter geworden war, hatte ihm zu einer sehr lukrativen Stellung bei Hofe verholfen und die Alchimie gleichzeitig auf die hinteren Ränge verwiesen.

Es ging noch weiter, denn tief in seinem Herzen war Giovanni gar kein überzeugter Astrologe. Sicher konnte er durch diese Tätigkeit sehr viel Geld verdienen und sich ein sehr angenehmes Leben leisten »… schließlich muss man ja auch von irgendetwas leben« war sein Wahlspruch immer. Doch sagte er das eigentlich viel mehr um sein eigenes Gewissen zu beruhigen, denn wirklich glücklich war er mit dieser Art von Arbeit nicht und das spürte man, wenn er wieder einmal beim Dogen saß und auf Einlass wartete.

Giovanni Patroni war von Natur aus ein Wissenschaftler, wie man sie sich damals zurecht vorstellte. Vorwitzig, faul und geradezu verspielt mit den Dingen die ihn interessierten. Er war neugierig auf alles, was er nicht kannte, andererseits auch furchtbar desinteressiert, bei Angelegenheiten, die nichts wirklich Neues brachten. Eigentlich war dieses Verhalten für Italiener nichts Untypisches. Aber Giovanni hatte auch für die alltäglichen Dinge keine Zeit und keine Geduld mehr. Immer vergaß er seine Miete zu bezahlen, weshalb er sich plötzlich auf der Straße wiederfand, oder er versäumte die häuslichen Geschäfte rechtzeitig zu erledigen, was ihn dann des Abends mit hungrigem Magen einschlafen ließ. So wie er dann abends ins Bett gegangen war, so wachte er auch morgens wieder auf – knurrend und schlecht gelaunt.

Giovanni war launisch und man konnte ihn schnell erzürnen, wenn man ihn allzu sehr reizte. Aber sein schlimmstes Übel war seine große Klappe und seine unglaubliche Sturheit. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann führte er es auch durch, egal was ihm dabei im Weg stand. Doch immer öfter, mit zunehmendem Alter, stand er sich nur selbst im Weg. Dann verlor er die Kontrolle über seine Worte, was dann sehr oft in einem verbalen Missgriff endete und ihm anschließend einen Haufen Ärger einbrachte.

Astronomie war seit neustem sein Steckenpferd und diese Wissenschaft brachte er zur Vollendung, mindestens glaubte er das selbst von sich. Giovanni war kompetent und belesen, wusste mehr als die meisten seiner Kollegen und machte leider auch keinen Hehl daraus. Und im Grunde konnte er auch stolz auf sich sein, nur hätte er dabei etwas weniger forsch sein sollen, dann wäre ihm sicher einiges erspart geblieben.

Giovanni war eine stadtbekannter Physicus, und das nicht nur, weil er überaus intelligent und behände im Umgang mit neuartigen Experimenten war. Er war spendabel bei den Frauen, rechthaberisch bei den Männern und beliebt bei den Kindern, denen er immerzu Geschichten von weit entfernten Ländern erzählte. Hin und wieder wurden ihm Arroganz und Überheblichkeit unterstellt. Doch das beachtete er nur wenig und tat es dann mit einer Handbewegung ab. „Einfallspinsel« nannte er die Schwätzer, ging nach Hause und trank ein oder zwei Gläser Wein. Wenn man es genau bedenkt, hätte Giovanni Patroni einen durchaus akzeptablen Adligen abgegeben. Eigensinnig genug, war er dafür allemal. Eigentlich gab es nur eine einzige Person in Giovanni’s Umfeld, die noch mehr Eigensinn, Arroganz und Selbstverliebtheit besaß, als er – und das war der Doge selbst.

»Warum hat er mich überhaupt eingestellt?« brummte Giovanni vor sich hin. »Er hätte auch jeden anderen einstellen können, der ihm die Sterne deutet. Es spielt sowieso keine Rolle, was ich vorschlage. Er macht doch immer, was er will« greinte er die Wand an, die er bereits seit Stunden vor Augen hatte. »Was hätte ich nicht alles machen können, in der Zeit. Aber nein … Ich muss ja mal wieder die Welt retten. So was Idiotisches. Ich habe wirklich besseres zu tun, als hier zu sitzen und auf diesen eingebildeten Fatzke zu warten.«

Giovanni wartete bereits mehr als zwei Stunden, als einer der Diener des Dogen den Saal, vor dem er sich hingesetzt hatte, verließ. Auf seinen Unterarmen trug er ein Tablett, das mit Bechern und einem Weinkrug bestückt war. »Offenbar lässt man es sich hinter dieser Wand nur allzu gut gehen« dachte er mürrisch, stand auf und trat vor seinen Stuhl. Dann nahm er wieder Platz und wartete geduldig weiter.

Giovanni saß in einem gangartigen Vorraum direkt gegenüber vom großen Saal, in dem der Doge gewöhnlich seine Gäste empfing. Überall an den Wänden waren Bilder, in dafür vorgesehenen Steinrahmen, aufgehangen. Zwei mal zwei Meter maßen alle Gemälde und passten so in dafür vorgesehen Aussparungen in der Marmorwand. Auf jedem Bild war eine Person dargestellt. Manche hatten einen bunten Hut auf dem Kopf, für die Giovanni schon von je her nichts übrighatte und die er teilweise sogar nur allzu peinlich fand. Der Bildhintergrund dagegen war meist einfarbig und langweilig braun dargestellt, damit sich der Blick des Betrachters vollends auf die vordergründig dargestellte Person konzentrieren konnte. Die Absicht des Malers, oder sollte man sagen, die des Dargestellten »… ist so was von durchschaubar« dachte Giovanni und schüttelte den Kopf über diese Einfallslosigkeit.

Da das letzte Gemälde den derzeitigen Dogen darstellte, konnte es sich bei den anderen Personen nur um seine Vorgänger handeln. Hier und da waren die Maler etwas zu ehrlich gewesen, denn Giovanni fiel auf, dass alle Personen auf den Bildern grinsten, wie aufgeblasene Breitmaulfrösche. »Das liegt wohl in der Familie« dachte er, doch eigentlich war das nicht richtig, denn so etwas, wie Titelvererbung gab es in Venedig offiziell gar nicht. Doge zu werden, musste man sich eigentlich verdienen. Inoffiziell wurde allerdings zumeist der Erstgeborene des regierenden Dogen als Nachfolger vorgeschlagen, vorausgesetzt natürlich, er war kein Dummkopf.

Giovanni sah sich die Decke an. Nicht, dass er sie nicht schon vorher hundertmal betrachtet hätte, aber manchmal fand er wieder etwas, das ihm vorher nicht aufgefallen war. Und schließlich hatte er ja nichts anderes zu tun. Er bewunderte die Fresken, die dort aufgemalt worden waren und fragte sich, ob er sich so etwas auch leisten könnte. Der Fußboden kam aus Carrara, da war sich Giovanni sicher. Schon einige Male hatte er diesen Boden bewundert und er kannte mittlerweile jede Ader, die sich im Marmor verbarg. Oft genug, wenn er wieder einmal warten musste, zeigte sein Kopf nach unten und stützten sich seine Unterarme auf die Oberschenkel – so wie heute auch wieder.

Venedig war extrem reich, und sicherlich eine der führenden Städte in der zivilisierten Welt. Es gab Schulen für Geistliche und sogar eine Universität, die von Franziskanern geleitet wurde. Sie trugen alles Wissen der Welt zusammen und vervielfältigten es dann in ihren Skriptorien, die kein Nichtmönch je betreten durfte. Außerdem gab es hier auch Banken und unendlich viele Händler unterschiedlichster Art und Herkunft. Sie verbanden sich alle zu einer Zunft und erhielten dadurch eine stärkere Position, wenn es um rechtliche oder kaufmännische Dinge ging. Jeder Doge erhielt von diesen Zunftleuten seinen Anteil am Geschäft. Und seit hundert Jahren konnte es der Fürst von Venedig – im Sinne des Reichtums – deshalb mit jedem Kaiser, König oder anderen Wichtigtuer in Europa aufnehmen. Geld hatte der Doge im Überfluss und damit forderte er Macht und Einfluss von Kirche und Staat.

Eines war daher mehr als offensichtlich. Italien mit seinen Bankenstädten, wie Genua, Venedig und Mailand, war zu dieser Zeit, Mittelpunkt der Welt und führend in allen Belangen, was nicht gerade zur Demut und Bescheidenheit des herrschenden Dogen beitrug.

»Ich solle mich in Bescheidenheit üben, sagt dieser dumme Mensch gestern doch tatsächlich zu mir. Das ist was, das er besser mal probieren würde« dachte Giovanni noch immer auf seine Audienz wartend. Seit er sich wieder hingesetzt hatte, war niemand mehr, außer einem Dienstboten ab und zu, aus dem Zimmer getreten oder hatte es verlassen. Das konnte eigentlich nur zwei Gründe haben. Entweder gab es eine sehr lange Besprechung, oder, was viel wahrscheinlicher war, der Doge ließ ihn wieder einmal nur Duldsamkeit proben.

Seit einiger Zeit verstand sich Patroni nicht mehr allzu gut mit seinem Fürsten. Drei Jahre war er jetzt bereits Hofastronom in den Diensten des Dogen und zu Beginn ließ er Patroni seine Eigenheiten noch durchgehen, doch immer öfter gerieten die beiden aneinander. Und sogar in der Öffentlichkeit sorgten sie für Aufsehen, wenn sie sich wieder einmal gegenseitig vorführten. Im Grunde wusste jeder Beobachter, dass dieses Verhältnis so nicht mehr lange andauern würde. Es war nur noch eine Frage der Zeit, wann sich die beiden gegenseitig die Köpfe eintreten würden. Wer dabei ein paar mehr Beulen abbekommen würde, war eigentlich auch schon klar. Das allerdings beunruhigte Giovanni in keinster Weise. »Man wird sich schon auf vernünftige Art und Weise einigen können« dachte er und meinte dabei seine Abfindung.

Das alles lag für Giovanni momentan aber in weiter Ferne. Denn es gab Dinge, die waren jetzt wichtiger. Giovanni hatte beschlossen, die Streitigkeiten für heute zu vergessen und sich professionell zu verhalten. Deshalb blieb ihm nichts anderes übrig, als weiter zu warten. Geduldig ging er auf und ab, sah aus dem Fenster auf den nahegelegenen Hof des Palastes, und betrachtete die roten Dächer, die still vor ihm lagen. Vögel saßen darauf und sangen ein Lied. Hinter den Dächern ging die Sonne schon langsam unter und der Himmel färbte sich rot. »Die Engel backen schon. Sehr früh dieses Jahr« dachte er, als endlich sein Name aufgerufen wurde.

Niemand hatte zuvor das Audienzzimmer verlassen, und außer dem Stadtkämmerer war auch keine weitere Person im Raum zu sehen, als Giovanni den Saal betrat. »Also doch …« dachte er »… wieder nur reine Schikane.«

Verärgert über die lange Wartezeit, aber noch immer auf die Zähne beißend, erklärte er dem Dogen, was er bei seinen neuerlichen Himmelsbeobachtungen festgestellt hatte. Doch leider, wie so oft in letzter Zeit, schenkte ihm der Fürst keinen Glauben. Stattdessen wiegelte er nur ab, suchte nach Gegenargumenten und tat alles, um Giovanni zu ärgern, bloß zu stellen oder ihm Unfähigkeit anbieten zu können, auch wenn er selbst nur allzu gut wusste, dass Giovanni der beste Sterndeuter der westlichen Hemisphäre war. »Ehrenwerter Herr Patroni …« sagte der Doge zu ihm, und bereits das war spöttisch gemeint »… warum, frage ich mich – sollte sich denn die Sonne schon wieder verfinstern? Haben wir denn den Allmächtigen irgendwie verärgert, dass er die Sonne abermals ausgehen lässt?«

»Aber nein, nicht doch«, entgegnete Giovanni. »Es ist der Lauf der Gestirne, der hierfür verantwortlich ist. Genau wie schon vor zwei Jahren wird sich der Mond vor die Sonne schieben und sie verdunkeln. Es hat nichts mit Religion zu tun, ehrenwerter Doge.«

»Alles hat mit Religion zu tun, Physicus. Auch wenn euch das nicht immer in den Kram passt. Und vor zwei Jahren wurden wir dafür bestraft, dass wir die Hexe am Leben ließen. Damals sagtet ihr auch, dass dies nichts mit Religion zu tun hätte, und dass es nicht mehr so schnell vorkommen würde. Wenn ich mich recht entsinne, vermutetet ihr, es würde sogar einige Jahrzehnte dauern. Und jetzt steht ihr schon wieder hier, und habt das gleiche ketzerische Gedankengut, wie damals« erwiderte der Doge verärgert darüber, dass Giovanni ihn offensichtlich für einfältig hielt.

»Sicher, ehrenwerter Doge. Ihr habt mal wieder recht. Aber in diesem Fall ist der Grund doch ein anderer« betonte Giovanni vorsichtig. Er wusste um seine Lage und wollte keinen Rauswurf riskieren. Immerhin war der Doge bei seinem wöchentlichen Verdienst nicht kleinlich gewesen. Das durfte man doch keinesfalls leichtfertig aufs Spiel setzten. Andererseits musste er den Fürsten unbedingt überzeugen. Das war schließlich seine Pflicht, andernfalls hätte er nicht wieder in seinen mit Gold verzierten Spiegel schauen können.

»Nun, Giovanni. Ich nehme an, ihr kennt den Grund« höhnte der Doge. »Was genau ist denn eurer Meinung nach die Ursache für den baldigen Untergang der Welt?«

»Ehrenwerter Doge. Ich sage nicht, dass die Welt untergehen wird. Sie wird nur – für eine kurze Zeit – etwas dunkler werden, aber das wird sicher wieder eine Panik auslösen« beteuerte Giovanni. »Ich glaube, dass wir diesmal die Bevölkerung davon in Kenntnis setzten sollten – frühzeitig informieren, meine ich – sonst gibt es wieder nur Rauben und Morden, wie beim letzten Mal.«

»Rauben und Morden gibt es in meiner Stadt nicht. Ich denke, das wisst ihr so gut, wie ich. Und dunkel wird es jede Nacht. Dafür brauche ich keinen neuen Grund. Außerdem werde ich unseren allmächtigen Herrn sicher nicht bevormunden. Wenn er uns für irgendetwas bestrafen will, dann ist Panik genau das richtige, um daraus zu lernen. So ist das eben, Patroni. Ihr werdet das nicht ändern, und ich ganz bestimmt auch nicht« gab der Doge zurück und kam sich unglaublich intelligent und fromm vor.

Im Grunde war damit eigentlich schon alles entschieden, das wusste Giovanni. Der Doge würde nichts unternehmen, was das drohende Unheil noch abwenden könnte. Vielleicht hätte der Doge etwas unternommen, wenn ihn ein anderer davon unterrichtet hätte, aber bei Giovanni Patroni lehnte er jede Bitte, kategorisch und von vorne herein, ab.

Doch Giovanni war ein sturer Hund und er gab nicht so schnell auf. Er startete einen letzten Versuch, die Bevölkerung vor einer Panik zu bewahren. »So versteht doch« sagte Giovanni, bemüht seine Fassung zu behalten. »Es ist keine Strafaktion. Es liegt vielmehr daran, dass sich der Mond in etwas weniger als einem halben Jahr genau vor die Sonne schieben wird. Und da dessen Durchmesser relativ zur Entfernung genau mit dem Durchmesser der Sonne relativ zu deren Entfernung – natürlich immer gemessen an unserem eigenen Standpunkt Erde – ziemlich genau korrespondieren, wird sich …«

»Genug« sprang der Doge Giovanni hart ins Wort. »Was redet ihr denn da? Wollt ihr mich für dumm verkaufen?«

»Aber ehrenwerter Doge. Ich versuche doch nur, euch zu erklären, dass … wenn sich die Erde um die Sonne dreht, und sich der Mond dann dabei …«

Doch urplötzlich sprang der Doge von seinem Thron und strahlte, als hätte er ein Geschenk bekommen. »Aaa..a..a, was sagt er da? Hat er gerade behauptet, dass sich die Erde um die Sonne dreht. So war es doch, oder? … Stadtkämmerer, was habt ihr gehört?« fragte der Doge den anwesenden Kämmerer, der sich allerdings bisher nur gelangweilt in der Ecke aufgehalten hatte, ohne dabei der Unterhaltung wirklich Folge zu leisten.

Etwas ertappt richtete er sich nun auf, nahm Haltung an und sagte dann: »Ich, … ähm. Was ich gehört habe? Nun, … ähm … das gleiche wie ihr, euer Hochwohlgeboren. Das gleiche wie ihr. Ich kann es bezeugen« versicherte er und grinste.

»Ich bin kein Hochwohlgeboren, du Dummkopf« fuhr der Doge den Stadtkämmerer an. »Wann versteht ihr das endlich? Ein Doge wird gewählt, nicht geboren.« Er drehte sich wieder zu Giovanni, dem gerade klar wurde, was er da behauptet hatte. Das war eine Vorlage für den Dogen und er würde sie vermutlich nutzen. »Ketzer wie ihr es seid … Patroni … brauchen wir nicht auf den Straßen Venedigs« sagte er zu ihm und lachte. Dann nahm er einen großen Schluck Wein und trank auf sein eigenes Wohl.

In der sogenannten zivilisierten Welt glaubte man, oder besser gesagt, man musste glauben, dass sich die Sonne um die Erde dreht, und nicht umgekehrt. Die Erde war unumstößlich das Zentrum der Welt. Und jeder, der dies in Zweifel zog, behauptete damit gleichzeitig, dass der Mensch, als das Werk Gottes, nicht länger im Mittelpunkt der Schöpfung stand. Aber das wiederum war ein direkter Angriff auf die Heilige Schrift und ihren weltlichen Vertreter, die heilige römische Kirche und sogar den Papst.

Giovanni hatte gerade ein Tabu gebrochen und langsam wurde es ihm auch klar. Was hämmerte er doch immer seinen Schülern ein: »Ein kluger Mann kann denken, was er will, aber er sollte es keinesfalls auch öffentlich aussprechen.« Und schon gar nicht sollte man dies tun, wenn der Gegenüber jeden begangenen Fehler sofort aufnimmt und einen selbst dafür gnadenlos büßen lässt. Und jetzt hatte er selbst diesen Fehler gemacht. Wieder einmal hatte seine große Klappe die Oberhand gewonnen, und ausgesprochen, was besser nie hätte gesagt werden sollen.

Doch es kam noch schlimmer. Der Doge wollte Genugtuung für die Tage der Demütigung, für die vielen Situationen in denen er von Patroni vor aller Welt als Dummkopf hingestellt wurde. In seiner Gesellschaft fühlte sich der Doge minderwertig und daher nie als Fürst von Venedig. Doch Patroni war auch ein außerordentlicher guter und intelligenter Physicus und alle Welt beneidete den Dogen um diesen vorzüglichen Sterndeuter. Trotzdem. Das Gefühl von erbärmlicher Minderwertigkeit saß tief in seiner Brust. Und jetzt endlich bot sich ihm die Möglichkeit zur Gegenoffensive. Jetzt endlich hatte er etwas in der Hand gegen Patroni, und der Stadtkämmerer hatte es mit angehört. Wie immer würde der alles behaupten, was der Doge hören wollte. Dass Giovanni eine gotteslästerliche Behauptung aufgestellt hatte, konnte – oder vielmehr wollte – der Fürst ihm nicht verzeihen. »Ihr Gelehrten, …« sagte er »… wie ich euch hasse, für eure Überheblichkeit. Für eure Anmaßung, Gottes Werke in den Dreck zu ziehen und eure eigene Welt, selbst neu zu erschaffen. Aber ich werde euch eines Besseren belehren, Patroni. Ich zeige euch, wie die Welt wirklich aussieht, dann werden wir ja sehen, wer hier der Dummkopf ist … Werft ihn in die Kammern. Soll sich die Kirche mit ihm beschäftigen. Die Inquisition wird euch schon wieder zurechtbiegen, und vielleicht, Patroni … eines schönen Tages … lassen sie euch wieder frei, als reuigen Bürger dieser Stadt, falls ihr euch bis dahin auf ein Besseres besinnt habt.«  Der Doge lachte verschmitzt und etwas hinterhältig. »Und bis es soweit ist, Patroni, dürft ihr in meinen Kammern darüber nachdenken, wie man sich einem Fürsten gegenüber zu benehmen hat.«

Das war das letzte Wort, das der Doge an Giovanni richtete. Dann wurde er abgeführt und ohne weitere Verhandlung oder Anhörung in die Bleikammern von Venedig geworfen. Niemand übernahm seine Verteidigung und keiner wollte sein Geständnis entgegennehmen. Er hätte natürlich sofort widerrufen, wie es ein vernünftiger Mann täte, wenn er die Möglichkeit dazu bekäme. Doch niemand wollte hören, was er zu sagen hatte. Keiner der Wärter oder Soldaten machte Anstalten sich für ihn oder seine Meinung zu interessieren.

Dass man einem einfachen Mann nicht zuhört – gut, das konnte Giovanni noch verstehen. Aber er war schließlich der Hofastronom des Dogen, und als solcher galt man doch etwas. Doch hatte er sich abermals getäuscht. Dort, wo er jetzt war, besaß er keinen Namen und keine Stellung mehr, geschweige denn etwas anderes, dass von Wert gewesen wäre. Nicht einmal eine Nachricht konnte er nach draußen senden. Niemand wusste, dass er hier in den Bleikammern einsitzen musste.

Giovanni wurde in einen dunklen Raum hineingeworfen, ohne Kerze und ohne Fenster. Kein Tageslicht drang hinein in diese abscheuliche Kammer, in der er die nächsten Tage – so glaubte er – fristen sollte, ganz alleine und jeder Sträfling für sich. »Nicht mal so groß, wie die kleinste meiner Kutschen« dachte er und blickte suchend umher. Ein Holzgestell stand in der Ecke und wartete auf müde Besucher. Das war alles. Kein Tisch, kein Stuhl und nichts für die Notdurft. Immer musste er sich bücken, wollte er einen Schritt in die andere Ecke tun, so tief hing ihm die Decke ins Gesicht.

Er setzte sich auf seine Pritsche, die selbst für italienische Verhältnisse zu klein war, doch dann fiel ihm plötzlich seine Wohnung ein und er sprang auf und stieß mit dem Kopf an die Decke. Er musste doch seinem Hauswart Bescheid geben, dass er die nächsten Tage keine Miete zahlen konnte. »Er wird sie anderweitig vermieten« dachte er. Das hatte er schon einmal getan, als Giovanni auf einer kleinen Reise war. »Sie dauerte doch nur ein einziges Jahr« sagte er damals zu seinem Hauswart.

Doch den interessierte das nur wenig. »Keine Miete, keine Wohnung« war alles, was dieser darauf antwortete.

Giovanni setzte sich wieder hin und überlegte. »Aussichtslos …« dachte er »… da ist nichts mehr zu machen. Die Wohnung ist sicher schneller weg, als ich hier raus bin.« Dann dachte er an seinen Freund. »Vielleicht kann er mir helfen? Aber wird er mich hier auch finden? Wahrscheinlich nicht. Wie sollte er auch. Er hat ja gar keine Ahnung … Na ja. Wahrscheinlich komme ich sowieso bald wieder hier raus. Ich muss nur widerrufen« beruhigte er sich und begann erneut mit Warten. 

Doch es kam noch einmal anders, als erwartet. Giovanni, eigentlich ein für italienische Verhältnisse stattlicher großer und aufrechter Mann mit strammen Waden und heftigem Bartwuchs, war nun seit siebenunddreißig Tagen in den Bleikammern von Venedig eingesperrt und bisher hatte es noch immer keine Anhörung gegeben. »Sicher wird es sie auch nie geben« vermutete er mittlerweile und ganz zurecht, denn der Doge hatte die Inquisition keineswegs unterrichtet, wie er es zu Beginn vorgegeben hatte. Nachdem das Problem mit Patroni einmal aus der Welt geschafft worden war, sollte es auf gar keinen Fall wieder hervorgeholt werden. Und so blieb Giovanni weiterhin eingesperrt, und langsam erkannte auch er die Situation, in der er sich befand.

Betrübt, verärgert und resigniert verwendete er die viele Zeit zum Nachzudenken, doch »… was nutzt es, wenn man die Gedanken nicht aufschreiben kann – dann verschwinden sie so schnell, wie sie gekommen sind« dachte er und bastelte in seinen Gedanken weiter an einer besseren Welt.

Mit dem Essen war es ähnlich. Auch das verschwand so schnell, wie es aufgetischt wurde. Von den Gefangenen wurde es die letzte Ration genannt, denn es war nur wenig mehr, als ein Kochlöffel voll Suppe, bestehend aus fast hundert Prozent Wasser und vielleicht auch mal etwas Gemüse. Dazu gab es eine schimmlige Scheibe Brot. Wenigstens war die Suppe warm, aber Kraft gab sie kaum. So verging die Zeit, und noch immer gab es keine Mitteilung bezüglich seines weiteren Schicksals. Mittlerweile war aus dem stolzen Giovanni ein geknickter alter Mann geworden, der kaum noch aufrecht stehen konnte. Zum Teil lag das natürlich an dem niedrigen Raum, in dem er sein Leben fristete. Doch auch sein Gesicht war matt und fahl geworden, leblos und ohne einen Tupfer Farbe. Der Bart war zerzaust und hing verfilzt bis auf die Brust. Seine Arme und Beine waren bereits so dünn, wie die eines Kindes, denn die Muskeln wurden durch das ständige Sitzen und Liegen kaum mehr beansprucht. Seine Kleider waren nur noch Fetzen, während ihm die Schuhe schon zu Beginn der Haft weggenommen worden waren. »Hier brauchst du keine mehr« sagte einer der Wärter und zog sie ihm mit Gewalt von den Füßen.

Wer hier länger als sechs Monate durchgehalten hatte, gehörte schon zu den Altvorderen unter den Insassen. Und so gab es auch keine Gefangenen, die länger als ein Jahr in den Kammern überlebt hatten. Die meisten verstarben je nach anfänglichem Zustand bereits nach drei bis sieben Monaten. Giovanni war mittlerweile fast vier Monate hier, doch sein Glück war, dass er als Hofastronom des Dogen ein sehr gutes Auskommen hatte und sich daher ein recht üppiges Leben hatte gönnen können. Sein leiblicher Zustand war daher auch überdurchschnittlich gut gewesen, als er seine Kammer zum ersten Mal betreten musste. Man kann nicht sagen, dass er in den letzten Jahren Fett geworden wäre, doch für mittelalterliche Verhältnisse war er recht gut gerüstet. Leider konnte das sein bevorstehendes Ableben nur hinauszögern, denn offiziell entlassen wurde hier niemand, so dachte der Doge jedenfalls, und er ließ es auch jeden wissen.

Abschreckung war im späten Mittelalter noch immer die Waffe, die die Könige und auch dieser Doge gegen Gewalt und Verbrechen einzusetzen pflegten. Und damit auch jeder richtig beurteilen konnte, wie überaus schlecht es jedem Straftäter ergehen würde, bat er ab und zu Gäste in seine Gemächer und erwähnte dann stolz und ganz nebenbei, dass aus seinen Bleikammern »… überhaupt noch kein Gefangener lebendig entlassen wurde.«

Um der Abschreckung vor seinem Gefängnis noch mehr Gewicht zu verleihen, genehmigte er auch Gefangenenbesuche. Nicht aus reiner Herzensgüte, sondern lediglich, wie er sagte, zur Information für Verwandte und Bekannte. Auf diese Weise wurden nicht nur die Übeltäter selbst, sondern gleich auch die ganze Familie von seiner Art der Abschreckung in Kenntnis gesetzt. Dieses Prinzip schien sich auszuzahlen, denn zur Zeit des amtierenden Dogen hatte die Stadt Venedig die geringsten Verbrechen aller Zeiten zu vermelden, worüber die zahlreichen Händler und Bankiers mehr als dankbar waren, denn Verbrechen verhagelten den Händlern das Geschäft. Und sie waren sogar bereit dafür zu zahlen. Das äußerte sich dann in sogenannten Kopfpauschalen, die regelmäßig von den verschiedenen Handelszweigen zwecks Geschäftssicherung an den regierenden Dogen ausbezahlt werden mussten.

Kopfpauschalen wurden von einer fixen Anzahl an Straftaten ausgehend berechnet. Je weniger Straftaten gemeldet wurden, desto höher war der an den Dogen zu zahlende Betrag. Stieg die Zahl der Straftaten wieder an, musste der Doge nachbessern und das kostete ihn sein eigenes Geld. So kam es, dass keiner der je verhaftet wurde noch ein weiteres Mal die Gelegenheit zur Straftat bekam. Denn die Gerichtsbarkeit lag in den Händen des gewählten Dogen und der befahl einfach, dass niemand entlassen werden sollte, völlig egal welches Vergehen ihm zu Last gelegt worden war, oder ob er es überhaupt begangen hatte. Gerecht war das sicher nicht, aber dafür eine sehr wirkungsvolle Art und Weise für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Als die Tage bereits wieder kürzer und die Nächte kälter wurden, hatte sich auch für Giovanni Besuch angemeldet. Das kam so überraschend für ihn, dass er fast vor Schreck und im Halbschlaf von seiner Pritsche gefallen wäre. So lag er dann auch in einer etwas merkwürdigen Position zwischen Liege und Boden, als seine Zellentür geöffnet wurde. Im Glauben daran, dass er nun doch endlich Rechenschaft ablegen sollte, wollte er sich keine Minute mehr zurückhalten und versuchte dem erwarteten und erhofften Besucher zuvorzukommen.

»Ah, mein ehrenwerter Doge. Endlich gibst du mir die Gelegenheit zu widerrufen« sagte er mit ironischer Stimme zu der dunklen Gestalt, die halb in der Tür und halb auf dem Flur stand. »Viel Zeit hast du dir gelassen. Bald wäre nichts mehr von mir übrig gewesen, was noch hätte Abbitte leisten können.«

Lange hatte er über das nachgedacht, was er dem Dogen sagen wollte, wenn er ihn denn endlich besuchen würde. Doch als es soweit war, fiel ihm nichts wirklich Gutes mehr ein. Nach den vielen Monaten des Wartens wurde Giovanni immer einsamer und er glaubte bald nicht mehr daran, dass er noch einmal hier herauskommen könnte. Er wurde merkwürdig eremitisch und langsam verlor er sogar den Glauben an eine gerechte Welt. Fast hätte er sich den finsteren Mächten anvertraut, doch bis zu diesem Tag hatte er noch immer gezögert. Es wäre ein allzu endgültiger Schritt gewesen und musste daher aufs äußerste durchdacht werden. Als Alchimist war ihm natürlich bewusst, welche Konsequenzen dies für ihn gehabt hätte, doch immer öfter dachte er daran, sich dem Teufel hinzugeben und ihm zu Diensten zu sein.

»Ich bin nicht dein ehrenwerter Doge« erwiderte ihm der Mann in einer sonderbaren und Angst einflößenden Stimme.

Der Doge war es tatsächlich nicht. Das zumindest konnte Giovanni erkennen. Die dunkle Gestalt war in einen Umhang gewickelt, als wenn er etwas zu verbergen hätte. Seiner Größe und seinem Akzent nach zu urteilen, war er nicht von hier. Nichts von ihm war richtig gut zu erkennen, nur die schwarzen Umrisse, die gegen den grellen Schein der Lichter vor Giovanni’s Zellentür abgebildet wurden. Giovanni bekam Angst und er glaubte den Leibhaftigen vor sich zu haben, weil er ihn vielleicht innerlich bereits herbeigesehnt hatte. »Wer … wer seid ihr dann und was wollt ihr von mir?« fragte er mit zittriger Stimme …