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Callais, Küste von Frankreich
1456 anno Domini, Sommeranfang
Nach vier Tagen hatte das Schiff die Küste von Frankreich erreicht und am frühen Morgen liefen sie in den Hafen von Callais ein. Bis auf zwei Male, als sie durch kleine Stürme im Kanal vom Kurs abgekommen waren, konnte man die Überfahrt eigentlich als ziemlich langweilig bewerten. Gegen sieben Uhr morgens wurden die Fahrgäste entlassen, eine Stunde später kamen auch Pferd und Karren von Bord. Robert und der Junge machten keine längere Pause, sondern versuchten gleich die Hafenstadt in Richtung Südwesten zu verlassen.
Es wimmelte hier nur so von englischen Soldaten. Karl VII. hatte die Angelsachsen zwei Jahre zuvor aus fast ganz Frankreich vertrieben. Aus fast ganz Frankreich – hier in Callais saßen sie noch immer und kontrollierten den Hafen. So war es zwar leicht auf dem Seeweg in die Stadt hinein zu kommen, als Landsmann. Doch über das Festland wieder hinaus zu fahren, war dafür überaus mühselig, denn man war als Engländer nicht sonderlich willkommen, im restlichen Feindesland. Rings um die Stadt verteilt, standen berittene Franzosen, die nur darauf warteten, die Stadt endgültig zurückzuerobern und der Ring, den die Belagerer vor der Stadt gebildet hatten, konnte nur dann durchschritten werden, wenn man tausend Fragen, bezüglich der Absicht und Aussicht der Reise beantwortete und alle Gegenstände vom Karren nahm, die nur irgendwie nach einer Teufelei rochen. Und um dieses leidige Prozedere schnell hinter sich zu bringen, wollte Robert möglichst zeitig aus Callais herauskommen, noch bevor sich eine meilenlange Schlange bilden würde. Proviant hatten sie genug und es gab daher keinen Grund länger zu bleiben, als nötig.
Die Sonne stand schon hoch als sie endlich die Ebenen von St. Omer erreichten und sie ihre erste Rast, hinter den feindlichen Linien, einlegten. Von einem kleinen Hügel aus, auf dem die beiden ein Feuer entzündet hatten, konnte man die Stadt an der Küste noch immer sehen. Aus einigen Häuserkaminen stiegen Rauchschwaden auf und um Callais herum erkannte man die Stadtmauer – ein Schutzwall aus gewaltigen Steinbrocken – die die Bewohner noch immer in Frieden hüllte. Aber von der See kommend, sah man bereits kleine weiße Segel, die langsam auf die Küste zuhielten und die bevorstehende Schlacht näherbrachten. Hunderte von englischen Soldaten wurden verschifft und in Stellung gebracht. Es war eine unruhige Stille und selbst die Vögel wussten, dass diese Ruhe nicht von Dauer sein würde.
»Wir sollten schnell aufbrechen und weiter Richtung Süden fahren.« meinte Robert. »Der Krieg wird bald fortgesetzt werden, vielleicht auch weiter südlich. Wir sind hier keinesfalls sicher.« Der Junge nickte und Robert kam es so vor, als würde er sein unbedeutendes kleines Leben in des Anführers große Hände legen. Langsam wurde Robert klar, dass er jetzt eine Verantwortung trug. Er hatte den Jungen ohne Namen mit auf diese Reise genommen – warum auch immer – und er war nun dessen Vormund, oder so etwas ähnliches.
Die beiden brachen ihr Lager ab und fuhren los. Mit jedem Tag, den sie weiter Richtung Süden kamen, wurde die Sonne intensiver und das Gesicht des Jungen lebendiger. Robert kannte noch immer nicht seinen Namen, obwohl er ihn bereits hundert Male danach gefragt hatte. Merkwürdig war auch, dass der Junge gar kein Interesse am eigentlichen Ziel der Fahrt zeigte. Offenbar war ihm nur wichtig gewesen, aus London heraus zu kommen. Was danach kam, schien ihm völlig gleichgültig zu sein. Aber mit jeder Meile wurde er munterer und Robert freute sich darüber. Diese Mischung aus Angst und Zurückhaltung, die sich bisher im Gesicht des Jungen als Ausdruck von Vorsicht manifestiert hatte, betrübte ihn sehr. Deshalb fuhren die beiden anfangs nur sehr still und völlig deprimiert vor sich hin – keiner sprach etwas. Doch langsam tauten die Gesichtsmuskeln des Jungen auf und er gewann Vertrauen. Seine Mimik wurde zahlreicher und Robert glaubte bald sogar, dass er die Antworten auf seine gestellten Fragen nur an den Gesichtszügen ablesen könnte. Eine Bestätigung dafür bekam er aber nie – zumindest nicht bis zu diesem Tag. »Willst du denn gar nicht wissen, wohin wir fahren?« fragte Robert den Jungen.
Zwar antwortete der wieder nicht, aber Robert erkannte diesen Blick. Diesen hier interpretierte er als … doch.
»Dann verrate mir deinen Namen und ich werde dir dafür unser vorläufiges Ziel erklären.«
Nichts. Der Junge rührte keinen Finger, geschweige denn seine Zunge. »Was ist bloß mit dem los?« dachte Robert. »Ich kann mir kein Schicksal vorstellen, das eine Zunge so bewegungslos macht, wie es bei dir der Fall ist« scherzelte er, und dieser Satz tat ihm hinterher sehr leid.
Robert hatte keinesfalls damit gerechnet, aber endlich öffnete der Junge seinen Mund. Doch hörte Robert noch immer nichts aus ihm herauskommen. Kein Ton war zu vernehmen. Stattdessen sah man einen Stummel, der sich flink hin und her bewegte. Der Mund schloss sich wieder und Robert hätte sonst etwas dafür gegeben, wenn er diese alberne Bemerkung von eben unterlassen hätte. Für den Jungen hatte es keine große Bedeutung, dazu lebte er schon zu lange ohne eine Zunge. Aber den Stummel jedem Menschen gleich beim ersten Treffen zu offenbaren, dazu gab es genauso wenig Grund. Vor etwa einem Jahr hatte er eine kleine Auseinandersetzung mit dem Koch eines Marineklippers, der ihn um sein Organ und den Kapitän zu einer unerwarteten, exzellenten Sülze brachte.
»Ähm …« fing Robert etwas verlegen an. »… also das tut mir leid. Offenbar gibt es doch einen triftigen Grund für dein Schweigen. Warum hast du das nicht früher gesagt? … Ach nein, das war blöd … Kannst du dich denn anders verständigen? Lesen und schreiben hast du sicher nicht gelernt, oder?«
Der Junge schüttelte den Kopf, zeigte aber gleichzeitig mit seinem Zeigefinger in die Luft, als bedeutete er: »Jetzt bitte mal aufpassen.« Sein Finger zeigte auf einen kleinen Baum, der gerade am Wegrand vorbeizog.
»Ein Baum« sagte Robert. »Du zeigst mir einen Baum oder vielleicht einen Ast«.
Der Junge schüttelte den Kopf. Das war es wohl nicht, was er sagen wollte. Dann zeigte er auf einen größeren Baum.
»Eine Eiche« riet Robert.
Aber das war es auch nicht. Um es zu verdeutlichen sprang der Junge jetzt vom Wagen und legte zwei Äste zu einem Kreuz zusammen und kniete sich betend davor.
Robert hielt den Karren an, drehte sich zu dem Jungen um und fing an zu raten: »Ähm … Beten … Kirche … Priester« rief Robert, dem das Spiel langsam Spaß machte.
Wieder schüttelte der Junge den Kopf. Dann öffnete er seine Handflächen, als hielte er ein Buch darin fest. Er blätterte in der Luft.
»Ein Buch« überlegte Robert. »Er kniet, er betet und blättert in einem Buch … Die Bibel« rief Robert. »Ja, die Bibel ist es« und der Junge nickte.
»Wozu willst du jetzt eine Bibel haben?« fragte Robert gleich hinterher und kramte dann in seinem Beutel nach einer Bibel.
Wieder schüttelte der Junge den Kopf. Dann hob er einen Stein auf und schwang seinen Arm, wie mit einer Schleuder. Der Stein löste sich aus seiner Hand und landete auf dem Stamm der vorher gezeigten Eiche. Der Junge blickte Robert an, aber der schien nichts zu verstehen. Dann schlug sich der Junge mit der Hand an den Kopf und fiel um.
»David und Goliath. Dein Name ist Goliath, wie der Riese aus der Bibel« sagte er mit einem Grinsen auf den Lippen.
Ratlosigkeit machte sich im Gesicht des kleinen Jungen breit.
»Ist ja schon gut. Ich hab’s verstanden« sagte Robert. »Dein Name ist natürlich David.«
Der lächelte, nickte mit dem Kopf und sprang wieder auf Robert’s Einachser auf.
»Das ging ja gar nicht so übel, für den Anfang« bemerkte Robert als er wieder die Zügel in der Hand hatte und die Fahrt fortsetzte. »Aber wenn wir für jedes Wort, das wir beide wechseln wollen, anhalten und Bilderrätsel lösen müssen, kommen wir nie in Ales an. Dahin fahren wir nämlich gerade. Aber es wird schon noch ein paar Tage dauern, bis wir dort sind. Vielleicht können wir unsere Verständigung noch etwas verbessern.« David grinste und stimmte zu. Von diesem Tag an, wurde ihre Reise zusehends unterhaltsamer.
Ludwig der XI. regierte seit einigen Jahren in Paris mit unerbittlicher Härte. Zu dieser Zeit war er zwar noch kein König, hatte aber zumindest hier schon die Macht von seinem Vater übernommen. Anfangs begnügte er sich noch damit einfache Frauen unehrenhaft zu behandeln, doch mehr und mehr gab er sich seinen Machtgelüsten hin. Ein paar Jahre nach seinem Anflug von Größenwahn starb König Karl VII. und Ludwig wurde in Avignon, der einstigen Papststadt und ehemaligen Residenz von Karl dem VII., zum rechtmäßigen König gekrönt. Endlich konnte er die unbeschränkte Monarchie einführen, was ihn zum absoluten Herrscher machte und ihm den Namen Ludwig der Grausame einbrachte.
Ein paar Jahre zuvor allerdings hatte der Prinz noch einige Reibereien mit den aufsässigen Bewohnern von Paris, die sich seiner Gewalttaten nicht einfach so ergeben wollten. Innerhalb der Stadt hatte er das Kriegsrecht ausrufen lassen, das jedermann zu befolgen hatte, wenn er nicht gleich an Ort und Stelle erschlagen werden wollte. Hierzu gehörte auch, dass man sich nach Sonnenuntergang nicht mehr auf der Straße blicken lassen durfte. Selbst kleinere Vergehen wurden fast immer mit der gleichen Strafe belegt. Standrechtliche Hinrichtung war eine sehr elegante Methode, Vergehen zu ahnden und gleichfalls durch das Schwarzpulver auch so einfach geworden. Man musste keine Galgen mehr bauen, und auf den Henker konnte man ganz verzichten.
Die Pariser, die es sich leisten konnten, zogen daher aus der Stadt – aufs Land. Andere versuchten sich zu organisieren, scheiterten aber meist an der überlegenen Militärgefolgschaft des Prinzen. Insbesondere weil die Soldaten jetzt auch Musketen besaßen – mit denen man auf einige Entfernung seine Gegner zur Strecke bringen konnte – war der Kampf sehr aussichtslos geworden. Daher zogen sich viele ärmere Bewohner anfangs in die Wälder zurück, was dem Prinzen überhaupt nicht zusagte »… schließlich muss ja einer die Arbeit machen, oder?« sagte er und befahl, die Stadt nach außen abzuriegeln. Seit diesem Tag konnte man nur noch nach Paris hinein, aber kaum mehr hinaus. Nur wer einen besonderen Passierschein besaß, durfte die Stadt verlassen. An einen solchen heran zu kommen war allerdings fast unmöglich.
Robert hatte davon gehört. Deshalb machte er einen großen Bogen um Paris. Doch die Umrundung kostete die beiden mehrere Tage und sie war sehr anstrengend, da jeder Weg der von Norden kam, nach Paris hinein und keiner drum herum verlief. Gerade wenn sie einen befestigten Weg gefunden hatten, der scheinbar östlich an Paris vorbei zu laufen schien, mussten sie ihn schon wieder verlassen und querfeldein fahren, weil er nach einiger Zeit doch wieder direkt nach Paris abdrehte. Und weniger gefährlich waren die Wege durch die Wildnis auch nicht, denn schon zwanzig Meilen außerhalb der Stadt waren die Gegenden voll mit trotzigen Waldbewohnern, die nichts lieber taten, als den Tyrannen von seinen Reichtümern zu trennen. Oft konnte dabei zwischen dem Eigentum der Königsfamilie, und dem völlig Unbeteiligter, kein Unterschied gemacht werden. Zu hungrig war die Bevölkerung, die ihr Leben jetzt unter einem Blätterdach fristen musste.
Erst als die beiden bereits südöstlich an Paris vorbeigefahren waren, konnten sie wieder die vorhandenen Straßen benutzen, die nun sehr eilig aus der Stadt wegzulaufen schienen. Hinter einer der vielen Brücken, die sie überquert hatten, brachte Robert den Wagen zum Stehen. »Wir werden heute hier in der Nähe übernachten« sagte er zu David. Dann ließ er das Pferd wenden und schwenkte den Wagen nach rechts in den Wald hinein. Etwa fünfzig Meter von der Straße entfernt hielt er wieder an und sprang vom Karren. Auf offener Straße zu übernachten, wäre viel zu gefährlich gewesen, da sich viele Unholde hier herumtrieben. Selbst Feuer machen war sehr gewagt, da man es in der Dunkelheit auf hundert Meter sehen konnte. Aber Robert wollte keinesfalls auf die Kochkünste von David verzichten, weshalb er stets auf ein Feuer bestand.
Wie so oft schon in den letzten Tagen versorgte David zuerst das Pferd. Und während er sich anschließend um die Lagerstätte kümmerte, erkundete Robert bereits die Gegend, um nicht plötzlich hinterrücks überfallen zu werden. Meist hatte David dann schon einiges auf der Flamme, wenn Robert vom Auskundschaften zurückkam. Die beiden ergänzten sich außerordentlich gut, und Robert war immer häufiger froh darüber, dass er David mitgenommen hatte. Genau wie er anfangs vermutet hatte, ging ihm der Junge gut zur Hand, und konnte sogar besser kochen, als er selbst. Und dass, obwohl Robert schon seit einigen Jahren in der Wildnis überlebte. »Entweder man hat ein Händchen dafür, oder man hat es nicht« dachte Robert immer öfter. »Und dieser Junge hat eines – das ist sicher.«
Als er an diesem Abend vom Ausspionieren zurückkam, hatte David bereits ein Stück von der halben Sau auf der Feuerstelle. Dazu gab es eine Art Kürbisgemüse, Brot mit Butter und eingelegtem Hering, als Vorspeise. Auch Honig, Marmelade und Räucherfisch hatte Robert gekauft. Selbst an sein geliebtes – Fass – Bier hatte er gedacht, lediglich die Milch für David war ihm nicht in den Sinn gekommen. Deshalb hielten sie ab und zu an einem Gutshof an, und kauften sie dort frisch vom Bauern. »Wahrscheinlich wäre sie bis hierher sowieso schon sauer gewesen. Allein die Schiffspassage durch den Kanal hätte sie kaum unbeschadet überstanden« dachte David, und fand es nicht schlimm, täglich darum betteln zu müssen. Denn wenn seine Milch mal wieder zur Neige ging, machte er die Hörner einer Kuh nach und zeigte Robert dann seine, zu einer Röhre geballten Hände, die er abwechselnd hoch und runter gleiten ließ. Wenn dann kein Bauernhof in der Nähe war, suchte Robert die nächst beste Kuh auf, und versuchte sich selbst am Euter.
»Das schmeckt mal wieder herrlich, David« sagte er abends am Lagerfeuer und war wirklich begeistert von so viel abwechslungsreicher Kost. »Wenn wir in Ales bei meinen Freunden sind, besorge ich dir alles, was du benötigst um ihnen ein Mahl zu bereiten, dass ihnen das Wasser im Mund zusammen laufen wird.« Und er trank auf David’s Wohl. »Das sage ich dir. Wenn du sie so beeindrucken kannst, wie mich, dann hast du starke Verbündete in ihnen. Und glaube mir. Das ist etwas wert, bei der Reise, die noch vor uns liegt. Immer vorausgesetzt natürlich, du willst noch mitkommen.«
David nickte und machte gleichzeitig eine fragende Bewegung. Dabei zog er Kopf und Augenbrauen gleichzeitig hoch, und drehte kurz seine beiden Händeflächen ausgestreckt nach oben und vorne. Ein kurzer anzeigender Ton kam durch seine Kehle. Auch ein Nichtpantomime konnte verstehen, dass dies heißen sollte: »Na, dann mal raus mit der Sprache. Erzähl mir von der bevorstehenden Reise.«
Robert hatte es ebenfalls verstanden, wusste aber nicht, ob er jetzt schon die ganze Wahrheit erzählen sollte. Dazu war David noch nicht lange genug bei ihm. Sicher hatte er Vertrauen zu ihm gewonnen, doch hierbei ging es um allzu wichtige und geheime Pläne. Er hätte sie nicht einmal seiner eigenen Mutter erzählt. Wahrscheinlich wäre sie dabei sogar tot umgefallen, wenn sie nicht sowieso schon lange verstorben gewesen wäre. Andererseits lagen viele von den Dingen, die sich ereignet hatten, auch für Robert noch immer im Verborgenen. Zum einen, weil er sie nicht verstanden hatte und zum anderen, weil er dafür schließlich seinen Freund hatte. Robert hatte sich bisher nur um den Weg und nicht um die Details kümmern müssen. Aber der Hauptgrund für seine Zurückhaltung war, dass er David für noch nicht alt genug hielt, alles zu erfahren. Deshalb erzählte er ihm nur das Nötigste. »Wir werden zunächst meine Freunde Josselin und Geraldo besuchen« sagte er. »Es sind Krieger und sie wohnen in einem alten Kloster in Ales. Sie werden uns auf der bevorstehenden Fahrt nach Italien begleiten. Dort werden wir dann meinen Freund Giovanni aufsuchen. Er weiß über alles Bescheid und wird dich informieren, wenn er es für richtig hält. Mehr darf ich dir im Augenblick nicht sagen. Nur das eine noch. Unsere Fahrt dorthin wird nicht ganz einfach werden und was danach kommt, kann niemand sagen – außer Giovanni vielleicht. Aber so viel weiß ich jetzt schon. Das hier wird ein Kinderspiel sein, gegen das, was noch vor uns liegt. Also, falls du irgendwann aussteigen willst, dann sage es … verflixt! … Versuche einfach, es mir mitzuteilen. Ich hätte Verständnis dafür. Allerdings würde ich mich freuen, wenn du bei mir bleibst.«
David nickte wieder …und wieder …und wieder. Langsam hatte er doch oft genug betont, dass er nichts anderes, geschweige denn besseres vorhatte. Außerdem, wo sollte er denn jetzt noch hingehen, wo er doch gar keinen Schimmer davon hatte, wo sie hier saßen oder bald sitzen würden. Er legte noch ein Schweinesteak auf, denn eine solche Unterhaltung machte hungrig auf mehr, wie er feststellen musste. Obwohl er kaum mit Robert’s Antwort zufrieden war, hob er trotzdem seinen Becher Milch und stieß, jetzt von sich aus, auf das Wohl von Robert an. »Einen besseren Freund kann man sich kaum wünschen« dachte er und glaubte in den Augen von Robert gesehen zu haben, dass er seinen gedanklichen Tost verstanden hatte.
Am nächsten Morgen brachen sie früh auf und setzten ihre Reise zügig fort. Es war etwa fünfzig Meilen südlich von Paris, in der Gegend um Corbeil, da trafen sie auf die Sâine, die nicht gerade gemächlich Richtung Paris strömte. Eine Brücke ragte mit weit aufgeschlagenen Armen über den großen Fluss und an ihren Ufern waren zu beiden Seiten nur Laubbäume und mittelhohe Sträucher zu erkennen. Flussauf- wie auch abwärts sah man Untiefen und Stromschnellen, die von großen Steinbrocken herrührten. Diese waren aus dem Cote d’Or und dem Morvan herangetragen worden – Berge, von gewaltigem Ausmaß. Hatten die Steine hier noch die Größe, ähnlich einem Haus, so wurden sie doch in Jahrtausenden zu Sandkörnern zerrieben, die weitergetragen, den Strand von Cherbourg und Le Havre säumten. Robert wusste, dass dieser Fluss auf viele Meilen ohne eine Brücke nicht zu überqueren war.
»Merkwürdig, nicht ein einziger Söldner, der die Brücke bewacht. Niemand der ein Wegegeld haben will« flüsterte Robert und David wurde sichtlich unruhig. Nur langsam setzte er den Wagen wieder in Bewegung und die beiden fuhren sehr umsichtig und bedächtig weiter. Tatsächlich war es völlig normal, dass jemand für das Befahren einer Brücke einen Ausgleich haben wollte. Eine so große Verbindung zwischen den Ufern eines Flusses konnte nur vom König oder einem seiner Verwandten finanziert werden, weshalb man also mit Soldaten oder Zollbeamten rechnen musste, meistens sogar mit beiden. In diesem Fall war aber niemand da, der das Wegegeld eintreiben sollte.
Als sich die beiden abends gefesselt und mit Kopfschmerzen am Lagerfeuer einer Waldbehausung wiederfanden, war klar, warum keine Zollbeamten an der Brücke gestanden hatten. Sie lagen vermutlich seit einiger Zeit in einem Loch, inmitten des Waldes, beraubt und entkleidet, ermordet und vergessen. Zumindest solange wie der König seine Steuern nicht vermisste. Danach wäre es sicher klug gewesen, den Platz an der Brücke so schnell als möglich zu räumen.
Indes saßen Robert und David etwas in der Klemme. Als sie das andere Ufer erreicht hatten, waren gleich drei brutale Gesellen von den herunterhängenden Ästen, der umher stehenden Bäume, auf ihren Karren gesprungen, zwei weitere kamen von vorne und drei von hinten aus dem Gebüsch gehüpft. Kaum Zeit nach dem Weg zu fragen, hatten die beiden bereits mehrere Stockhiebe auf den Kopf bekommen und das Licht vor ihren Augen schwand schnell und sie schliefen bis zum Abend.
»Par les vous francaise?« kam es aus Richtung der Feuerstelle, als Robert langsam seinen Verstand wiedererlangte.
»Allerdings« antwortete Robert dem Mann in Französisch. Sein Kopf tat weh, seine Kehle brannte und seine Muskeln fühlten sich an, wie das Fleisch von Fallobst.
»Ihr seid Engländer, nicht wahr?« fragte der Mann am Feuer.
Robert befühlte seinen Kopf »… ahh …« und seine Hand zuckte zurück. »Auch das stimmt« antworte er und hielt sich jetzt vorsichtiger den Kopf vor Schmerzen.
»Willst du etwas essen?« fragte der Mann.
Robert nickte. David schlief offenbar noch immer. »Kann ich auch etwas zu trinken bekommen? Meine Kehle ist etwas staubig« fragte Robert den Mann.
Als der in den Schein des Feuers trat und ihm einen Becher Wasser reichte, erkannte Robert eine hagere, aber durchaus kräftige und hochgewachsene Gestalt. Wie ein typischer Räuber sah er nicht aus.
»Entschuldigt bitte den rauen Umgangston meiner Männer. Wir hatten nicht die Absicht, euch zu erschlagen« sagte er. »Aber auf offener Straße kann eine Bande von Räubern keine Fragen bezüglich des Weges beantworten. Das versteht ihr sicher.«
»Ihr seid aus Paris, nicht wahr?« fragte Robert. »Sehr weit südlich habt ihr euch niedergelassen – auf dem Posten der Zöllner … Nicht gerade ein Platz zum Familie gründen, meint ihr nicht auch?«
Der Mann lachte und nickte gleichzeitig. »Ja, recht habt ihr in allem. Wir haben morgen noch etwas zu erledigen, aber dann werden wir aufbrechen und diese Gegend alsbald verlassen« antwortete der Mann und nahm einen großen Schluck Bier aus seinem Krug. »Wir sind Bauern, Bäcker, Metzger, Schuhmacher und ich bin von Haus aus Wirt. Als unser Herr Prinz die Sperrstunde einführte, konnte ich meinen Laden zumachen. Ich versuchte noch an andere Arbeit zu kommen, aber es wurden immer weniger, die in Paris blieben und so ging auch die Arbeit weg und ich mit ihr. Aber hier draußen auf dem Land ist man nur ein Vagabund, ein Strolch oder Herumtreiber. Es ist kaum an Arbeit heranzukommen. Wir haben uns daher organisiert – zu einer Zunft der Räuber sozusagen.« Der Mann lachte aus vollem Hals. »Und wie ihr seht, geht es uns dabei sehr gut. Besser als je zuvor, würde ich sagen. Ich trinke Bier und esse Fleisch. Das gehörte zwar heute Morgen noch dir, aber du hast sicher nichts dagegen, wenn ich es jetzt für dich verwahre.«
Robert fühlte sich schon einigermaßen verärgert, wegen des rüden Auftritts von heute Mittag, aber sich auch noch blöde Sprüche von einem aufgeblasenen Möchtegernräuber anhören zu müssen, ging jetzt doch zu weit. Obwohl er sicher nicht in der Position war, versuchte er offenbar den ehemaligen Wirt herauszufordern. Anders konnte man seine direkte Art zu antworten kaum deuten. »Hättest du dir die Zeit für Fragen genommen – auf der Straße, meine ich – ich hätte dir etwas von meinem Proviant abgegeben. Dazu bedurfte es keiner Prügel.« erwiderte Robert ärgerlich. »Und wenn du uns nicht wieder laufen lassen willst, kannst du deine Erklärungsversuche auch für dich behalten« wurde er heftig bei so viel Heuchelei. »Wirt hin oder her, ein Räuber bleibt ein Räuber, auch wenn er vom Prinzen dazu gemacht wurde.« Außerdem tat sein Kopf wieder weh.
»Ha …« rief der Räuber. »… ich habe mir bereits alles genommen, was ich benötige. Und wenn ich es für richtig halte, dann werde ich auch dein und deines Freundes Leben nehmen, also red’ nicht mit mir, wie mit einem Knecht. Hier im Wald bin ich der König und ich mache, was mir gefällt« rief er wütend. Das hatte er nun wirklich nicht nötig, sich von einem dahergelaufenen Wandersmann zurecht weisen zu lassen. »Zu essen bekommst du vielleicht morgen, wenn deine Zunge wieder etwas mehr Vorsicht walten lässt« sagte er und trat Robert den Becher aus der Hand. »Fesselt ihn wieder an den anderen« rief er einem anderen Mann zu, der in der Gegend herumstand und die kurze Unterredung belauscht hatte.
Offenbar hatte es Robert ein wenig übertrieben mit seiner Beschwerde, dem Anführer gegenüber. Und dieser selbstzufriedene Wirt war wohl auch schon etwas zu lange ein freier Mann. Das Gefühl der Unbesiegbarkeit hatte sich schon über seine Sinne gelegt. Er war blind vor Stolz und überzeugt von sich und seiner auf Rache sinnenden Bande. Und die Wut über den König, der dem Prinzen so viel Freiraum ließ, dass er tun und lassen konnte, was er wollte, saß so tief in seinem Herzen, wie kein anderes Gefühl. Beides zusammen machten ihn zu einem sehr gefährlichen Mann, und Robert bereute schon, dass er den Wirt so unverblümt angegangen hatte. »Dummkopf« dachte er. »Auf die Art lässt er uns sicher nicht frei.«
Am nächsten Morgen war David als erster wach. Sein Kopf hämmerte wie ein Tambourmajor und seine Gelenke taten weh, als hätte er schon seit hundert Jahren Rheuma. Vorsichtig öffnete er seine Augen und wagte einen Blick. Er war sich nicht sicher, was gestern Nachmittag passiert war. Zwar hatte er noch gesehen, dass ein paar Leute auf den Karren gesprungen waren, aber danach gingen bei ihm gleich die Lichter aus. Jetzt lag er gefesselt auf dem Boden und vor ihm standen etwa zehn magere Gesellen, die aussahen, wie eine wartende Gesellschaft von Reisenden. Einer saß etwas weiter weg und machte den Eindruck des Nachdenkens. Die anderen standen im Kreis und unterhielten sich. Keiner von ihnen sah aus wie ein Dieb oder ein Gewalttäter. Nur ihre dreckige Kleidung und ihr unsauberes Aussehen deuteten auf ein Leben im Freien. Robert hatte ihm von Prinz Ludwig dem XI. und seinen Pariser Untertanen erzählt. Diese Leute benahmen sich genauso, wie er sich die Freibeuter vorgestellt hatte.
David blickte zu Robert, doch der schien abwesend zu sein. Insgeheim hatte Robert die Unterhaltung der umherstehenden Männer belauscht. Er fragte sich, was wohl der Grund dafür sei, dass sie noch am Leben waren. Was hatte diese merkwürdige Räuberbande vor? Es sah ganz so aus, als würden sie auf etwas warteten. Einige gingen auf und ab, andere schauten ungeduldig in Richtung Sonne und schätzten die Zeit. Hinter einem umgefallenen Baumstamm sah er noch weitere Leute, die ebenfalls gefesselt auf dem Boden lagen. »Wir sind also nicht die einzigen« dachte er und verspürte jetzt, neben seinen Kopfschmerzen, zu allem Überfluss auch noch großen Hunger. Als er sah, dass David wach war, warf er ihm einen fragenden Blick zu, und der beantwortete dies mit einem Nicken. Es geht ihm also einigermaßen gut» dachte Robert. Na wenigstens etwas.«
Ein paar Stunden nach Sonnenaufgang hörte man ein leichtes Gemurmel in der Ferne. Dann wurde es lauter und lauter. Rufe ertönten, die nicht zu verstehen waren und Pferdegetrampel kam immer näher. Ab und zu gab es ein Klatschen, danach wurde es wieder etwas stiller. Und erst nach einer ganzen Weile, als das Getöse fast aus dem eigenen Kopf zu kommen schien, stand der Anführer der Bande auf und ging zum Waldrand. Jetzt konnte Robert sehen, dass dort etwa hundert Menschen in einer Dreierreihe hintereinanderstanden. Sie waren mit großen Ketten aneinandergefesselt und bekamen einer nach dem anderen ein Schluck Wasser. »Sklaven …« fuhr es Robert durch seine sämtlichen Gelenke. »… deshalb leben wir noch.«