Kapitel III – Rotröcke

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London, nahe des Themseufers

1456 anno Domini, Frühling

Es war zwar noch immer Frühling aber die Sonne stand bereits hoch im Zenit. Keine Wolke trübte den Blick in die Ferne, genauso wie es an den warmen Tagen zuvor auch schon gewesen war. Robert hatte vor einem kleinen Laden in der Nähe des Hafens, nahe der Themse, Halt gemacht. Auf einem großen Schild über der Eingangstür stand geschrieben …

Sir Lorradal’s taddy little shop

Darunter war ein königliches Wappen aufgemalt. Ganz offenbar war dies ein Geschäft, in dem auch der König und die Königin, oder zumindest die Angestellten des königlichen Palastes einige ihrer Bestellungen aufgaben.

Das Haus, in dem der kleine Kramladen untergebracht war, bestand wie fast alle anderen Häuser hier im Hafenviertel auch, aus altem Fachwerk und die Häuserwände, in der die vorderen Eingangstüren eingelassen waren, wurden stets leicht schräg, zur Straße hinzeigend, in die Gasse hinein gemauert. Das hatte den nicht zu verachtenden Vorteil, dass man seine Notdurft schnell mal aus dem Fenster im oberen Geschoß, in dem die Nachtlager zu finden waren, direkt in die Straßengasse schütten konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, es vor seiner eigenen Haustüre wiederfinden zu müssen. Ein sorgsam angelegter Rinnstein in der Mitte der Gasse beförderte dann das Meiste des Unrats auf direktem Wege in den Fluss. Der morgendliche Regen erledigte fast immer den Rest.

Als Robert eben durch diese Gasse gefahren war, überkam ihn das Gefühl, dass die Häuser bald über seinem Kopf zusammenstürzen würden, so schief starrten ihn die Wände an. Wenn er allerdings entlang dieser abschüssigen Gasse blickte, und das war ein schöner und stolzer Anblick, dann konnte er in einiger Entfernung die Großschoten der königlichen Drei- und Viermaster über den Dächern Londons erkennen, die hier friedlich vor Anker lagen. Dieser Blick gab ihm Luft zum Atmen. Luft, die die Gasse ihm bereits entrissen zu haben schien.

England hatte gerade mal wieder ein paar kleinere Streitigkeiten mit Frankreich, weshalb einem das Glück schon zu Seite stehen musste, wenn man überhaupt Kriegsschiffe im Hafen liegen sehen wollte. Sie kamen eigentlich nur dann nach England zurück, wenn sie Nachschub an Freiwilligen für die Marine oder zur Seefahrt benötigten. In letzter Zeit war das sehr häufig der Fall, und man konnte nur vermuten, dass der Krieg für den König schlecht lief.

Freiwilliger auf einem solchen Kriegsschiff der königlichen Marine wurde man meist einen Abend zuvor, wenn das Schiff den Hafen verlassen wollte. Dann gingen kräftige Seeleute im Auftrag der Krone in die Pubs, gaben dem Wirt ein paar Golddublonen, und schlugen den bereits leicht angetrunkenen Besuchern des Wirtshauses, mit einem Enterholz, eins über den Schädel. Anschließend wurden die Freiwilligen dann aufs Schiff getragen und einfach vor der Reling liegen gelassen. Wenn genügend potentielle Mannschaft an Bord war, setzte die Stammbesatzung die Segel und fuhr mitten in der Nacht los. Nachdem der betrunkene Gast seinen Rausch an der frischen Seeluft ausgeschlafen hatte, war er ohne viel Aufhebens davon zu machen, der Kriegsmarine beigetreten. Flüchten war zwecklos, denn auf hoher See gab es außer dem Schiff, auf dem man saß, nichts als Wasser. Außerdem verpflegte der König seine Getreuen sehr gut, denn er wollte diesen elenden nicht enden wollenden Krieg endlich gewinnen. Daher hörte man nur wenige, die sich über die Einladung zur Seefahrt beschwerten, vielleicht aber auch, weil man Meuterer nur allzu schnell am Fahnenmast zum Schweigen brachte.

Manchmal wurden auch kleiner Schiffsjungen benötigt, die sich in den Gassen Londons zu Hauf finden ließen. Und kaum jemand bemerkte es oder vermisste sie, wenn diese eines schönen Abends in einem Sack verschwanden. Robert kannte die Vorgehensweise der Fänger, die sich tagsüber normalerweise nicht blicken ließen. Dann konnten man getrost seinen normalen Geschäften nachgehen, ohne befürchten zu müssen, doch noch eingetütet zu werden.

Als Robert den kleinen unscheinbaren Laden betrat, meldete eine kleine Glocke über der Tür seine Anwesenheit, trotzdem dauerte es eine ganze Weile bis jemand der Aufforderung nachkam und ihn bedienen wollte. Er nutzte die gebotene Zeit und sah sich den Laden genauer an. Offenbar handelte es sich nicht nur um einen Kramladen, wie über der Tür behauptet wurde. Denn hier waren feinste Köstlichkeiten aus aller Welt zu finden. Von frischem Obst aus Südeuropa, über Gewürze aus der arabischen und orientalischen Welt, bis hin zu Porzellan und Seide aus Indien und China. Aber daran war Robert nur nebensächlich interessiert. Er hatte von einem äußerst explosiven Stoff gehört, der seit kurzem auch in den Kriegsschiffen eingesetzt wurde. Angeblich konnten damit sogar schwere Metallkugeln mehrere hundert Meter weit geschossen werden. Robert war sehr skeptisch, und doch auch angetan von diesem Gedanken. Ein alter aber durchaus vornehmer Geschäftsmann aus Paris hatte ihm eines Abends in einem der unzähligen Londoner Pub’s erzählt, dass man dieses Pulver unter anderem in Sir Lorradal’s Kramladen in der Salsburyroad erstehen könnte – nur deshalb war er hier.

Robert schaute sich um. Er suchte nach kleinen Säcken oder Beuteln, die vielleicht Aufschluss über die Anwesenheit des Pulvers geben könnten, als die Eingangstür erneut aufging und ein kleiner Junge hereinkam Er war vielleicht zehn oder elf Jahre alt – keinesfalls älter, und er war kaum größer als zwei Säcke Korn übereinander, nur nicht so breit. Sein Haar war nass und hing ihm tief ins Gesicht. Die Kleider baumelten an ihm in Fetzen herunter und Schuhe besaß er nicht, was aber für Jungs in seinem Alter nicht ungewöhnlich war. Allerdings war er wohl gerade mit samt seinen Kleidern in den Fluss gesprungen. Das wiederum war schon etwas sonderbar. Zwar sah man sehr oft die Kinder Londons in der Themse schwimmen, doch immer nur nackt. Dieser hier war aber so nass, dass die Pfütze, die er hinterließ, bereits zu den Mehlsäcken kroch.

Der Knabe stand im Raum und schaute sich um, sagte aber nichts, als der Besitzer endlich durch eine Tür im hinteren Bereich in den Laden trat. »Entschuldigen sie bitte, Sir. Ich werde mich sofort um sie kümmern. Lassen sie mich nur kurz den Knaben bedienen« sagte er zu Robert.

»Machen sie nur. Ich habe Zeit« erwiderte Robert.

Hastig ging der beleibte Mann in den Raum hinein, und auf den Jungen zu. »Was machst du hier, du Lümmel? Raus, aber schnell, bevor ich die Rotröcke kommen lasse« sagte er und versuchte den Jungen zu greifen, der daraufhin Reißaus nehmen wollte.

Doch Robert kam beiden zuvor. Mit einer Hand stoppte er den rundlichen und gedrungenen Ladenbesitzer, mit der anderen griff er nach dem Jungen, um ihn am Fortlaufen zu hindern. »Entschuldigen sie genauso. Aber was hat der Junge ihnen getan, außer ihren Fußboden zu überschwemmen?« fragte Robert, womit Sir Lorradal nicht gerechnet hatte. Irgendwie erinnerte ihn der Junge an seine eigene Kindheit.

»Sie sind wohl nicht von hier, wie?« fragte er, wartete aber nicht auf Robert’s Antwort, sondern sagte selbst: »Nun, in Anbetracht seines Erscheinungsbildes wird das Überschwemmen meines Fußbodens schon ausreichen, um ihn vor die Tür zu setzen. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser junge Herr mir den Schaden mit einem Einkauf aufwiegen wird. Wenn sie also nichts dagegen haben, werde ich ihn auf die Straße setzen.«

Der dicke Mann schob Robert’s Arm beiseite und ging erneut auf den Jungen los. Der befreite sich gleichfalls gekonnt aus Robert’s Griff und rannte hinter seinem Rücken in die Stube hinein. Er wollte gerade zur Hintertür hinauslaufen, als Sir Lorradale mit einem überaus geschwinden Satz, den man ihm gar nicht zugetraut hätte, den Schopf des Jungen schnappte und ihn zurück zur Eingangstür beförderte. Sir Lorradale öffnete sie, packte den Jungen unter den Armen und holte zum Wurf aus, der den Jungen mit Leichtigkeit zwei oder drei Meter vor die Tür geschleudert hätte, als ihm Robert abermals zuvor kam.

»Wenn sie nichts dagegen haben?« wiederholte Robert die Frage von Sir Lorradal. »Nun … ich habe. Und es wird mir gleichfalls eine Freude sein, ihnen den Schaden zu ersetzen, wenn sie dafür den Jungen vom Schopf lassen.«

»Dann gehört er also zu ihnen. Warum haben sie das denn nicht gleich gesagt? Das habe ich nicht gewusst. Entschuldigen sie vielmals« sagte er und ließ den Jungen los. »Sie wissen sicher, wie es mit diesen Straßenkindern ist. Immerzu klauen sie nur, oder bringen alles durcheinander, und immer hat man nur den Schaden«, bedauerte Sir Lorradale sich selbst. Robert wusste tatsächlich sehr genau, wie es mit den Straßenkindern ist – er war früher selbst eins gewesen, und dass sie noch immer genauso schlecht behandelt wurden, ärgerte ihn ziemlich.

Jetzt, da der kleine kräftige Mann vom Leib des Jungen abließ, sah man eine streifenförmige Verletzung im Gesicht des Knaben. Daneben waren überall Schmauchspuren zu sehen. Robert erkannte, dass diese Spuren nur von dem besagten schwarzen Pulver stammen konnten. Aber die einzigen, die sich bisher solch einer Waffe bedienen durften oder konnten, waren die Angestellten der britischen Krone. Das waren zum einen die Fänger, zum anderen die Soldaten, die im Volksmund nur Rotröcke genannt wurden. Wahrscheinlich hatte der Junge gerade eine Auseinandersetzung mit einem der beiden Parteien hinter sich gebracht. Und vielleicht war er nur knapp entkommen, oder noch immer auf der Flucht, was seine nassen Kleider erklären würde.

Es fiel auf, dass der Junge bei der ganzen Konversation zwischen Robert und dem Besitzer des Ladens keinen einzigen Ton gesagt hatte. Und auch jetzt, wo er unter der Obhut von Robert stand, kam nicht ein einziges Wort des Dankes über seine Lippen.

»Nun gut, Mister« unterbrach Sir Lorradal das kurze Schweigen, das dem Jungen die Möglichkeit zur Danksagung geben sollte. »Wie gedenken sie mir den Schaden zu ersetzen?«

Robert schaute sich bedächtig um. Er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Also suchte er nach anderen brauchbaren Dingen. An den hinteren Wänden des Ladens hingen Schweinebäuche und Rinderhälften. »Das wäre sicher das richtige, für eine längere Reise.« dachte er. »Nun, Sir. Zunächst benötige ich etwas Verpflegung für eine Person, die etwa einen Monat unterwegs sein wird« sagte er, doch dann hielt er kurz inne, dreht sich um und blickte den Jungen an. Der rührte sich noch immer nicht von Robert’s Seite – er schien sich geradezu hinter ihm verstecken zu wollen. Robert korrigierte sich. »Nein, warten sie. Geben sie mir Proviant für zwei Personen, die einen Monat unterwegs sein werden.« Was hatte er gerade gesagt? Hatte er wirklich den Jungen eingeladen mitzukommen, auf seine Reise? Warum hatte er das gemacht? Robert war eigentlich immer jemand gewesen, der alleine unterwegs war. Er hatte keine Frau oder gar Kinder. Seine Eltern hatte er nicht wirklich gekannt und eine Familie besaß er deshalb schon seit einer Ewigkeit nicht mehr. Er vermisste sie nicht einmal. Was sollte das also? Robert überlegt und plötzlich fielen ihm die Worte seines Freundes ein. »Robert …« hatte er gesagt »… denke immer daran. Du kannst dich ihr nicht widersetzen. Versuche also besser nicht ihr zuwider zu handeln« Hatte es etwa etwas mit ihr zu tun? Wollte Sie, dass der kleine Junge mit ihm kam? Warum sonst hatte Robert den Jungen in Schutz genommen? Er beschloss, das Schicksal eine Entscheidung treffen zu lassen. »Wenn der Junge mitkommen will, dann soll er ruhig. Was geht’s mich an.« dachte er und wendete sich wieder Sir Lorradale zu.

Was es Robert anging, wusste Sir Lorradale natürlich nicht, es war ihm auch egal, zumal er Robert’s Gedanken sowieso nicht kannte. Er freute sich aber sehr über diese großzügige Bestellung und rannte sofort los um einige seiner Angestellten zu holen, die ihm beim Verpacken zur Hand gehen sollten. Doch Robert’s Bestellung war noch nicht zu Ende und er rief dem Verkäufer noch mehr hinterher. »Und ich benötige zwei, besser drei Säcke von eurem Schwarzpulver, das ihr unter eurer Theke versteckt haltet« sagte er hastig, noch bevor der dicke Mann durch die Hintertür verschwunden war.

Der drehte sich drei- oder viermal um und suchte nach anderen Zuhörern, fand aber keine. Dann wiegelte zur Vorsicht ab. »Es gibt kein Schwarzpulver, oder wie ihr es nennt, unter meiner Theke« sagte er. Wieder schaute er sich um. Daraufhin zog Robert einen Beutel mit Goldmünzen aus seinem Umhang hervor und plötzlich wurde der kleine Mann ganz umgänglich. »Nun, in diesem Fall könnte ich vielleicht etwas von dem Besagten finden« murmelte er und man sah seine Augen förmlich zucken.

Sir Lorradale verschwand kurz und kam danach mit einigen Helfern wieder zurück. Zügig wurden alle Gegenstände zusammengepackt, und völlig unaufgefordert ging der Junge Robert zur Hand. Als hätte er in seinem ganzen Leben nichts anderes gemacht, schleppte er die erworbenen Säcke und abgepackten Beutel vor die Tür und nach kurzer Zeit hatten sie sämtlichen Proviant auf Robert’s Einachser geladen. Der hatte die ganze Zeit geduldig vor dem Laden gestanden. Als gerade niemand in der Straße zu sehen war, versteckte Robert das erworbene Schwarzpulver unter dem Wagen »Nur um sicher zu gehen, dass eine eventuelle Durchsuchung nicht auch noch zu unnötigen Fragen führt« sagte er zu dem Jungen, doch der war bereits wieder in den Laden gelaufen und holte den Rest der Verpflegung. Mit solchen Durchsuchungen musste man immer rechnen, insbesondere wenn man ein Schiff zum Festland besteigen wollte. In dieser Zeit war es nicht ganz so einfach nach Frankreich zu kommen, denn es wimmelte nur so von lästigen Kontrollen.

Als alles verstaut war, blickte Robert dem schweigsamen Jungen tief in die Augen und mutmaßte drauf los. »Ich weiß nicht, wer oder was dich zu mir geschickt hat, aber ich ahne, dass du ein paar Probleme hast.« Der Junge sagte nichts. »Wahrscheinlich gehe ich nicht fehl mit der Annahme, dass niemand daheim auf dich wartet.« Das war nicht sehr schwer zu erraten gewesen, wenn man bedenkt, dass der Junge leicht verwundet war und trotzdem ziellos durch London’s Gassen streifte, anstatt sich von einem Bekannten verarzten zu lassen. Das sah der Junge wahrscheinlich genauso, denn noch immer gab er keinen Ton von sich. Er stand nur regungslos da und schaute zu Robert auf. »Ich erkenne momentan auch nicht den Grund für dein Schweigen, aber ich glaube, dass du mehr im Kopf hast, als aus dir herauskommt. Und dass du gut anpacken kannst, hast du eben eindrucksvoll unter Beweis gestellt … Also ich’s sag’s mal frei heraus. Ich würde mich freuen, wenn du mich ein wenig begleiten würdest. Vorausgesetzt natürlich, du hast nichts anderes vor? … Wie du eben selbst gehört hast, habe ich Proviant für Zwei gekauft. Wenn du also willst, kannst du die zweite Person sein. Ich könnte eine helfende Hand und vor allem etwas Unterhaltung gebrauchen. Für das letztere müsstest du allerdings mal den Mund aufmachen« Robert wartete auf eine Antwort, aber es kam nichts aus dem Jungen heraus. »Ich deute dein Schweigen mal so, dass du innerlich noch nicht abgelehnt hast. Deshalb hier noch eine Warnung … Meine Reise dauert lange – Monate, vielleicht sogar Jahre – und sie wird anstrengend. Sie könnte gefährlich werden, aber auch aufregend und vielleicht wird sie sich für uns lohnen. Versprechen kann ich aber nichts.« Robert wartete wieder auf eine Antwort, aber es kam noch immer keine Reaktion. »Sehr gesprächig bist du ja nicht gerade. Das mit der Unterhaltung wird wohl schwieriger, als ich mir erhofft habe. Aber deine zerlumpten Kleider sagen mir mehr, als du selbst. Wenn ich noch weiter vermuten darf?«

Und diesmal kam eine Antwort, wenn auch nur eine stille, denn der Junge nickte mit seinem Kopf.

»Na immerhin« nahm Robert zur Kenntnis. »Verstehen kannst du mich offenbar. Das ist ein Anfang. Also, wenn ich mich nicht völlig irre, dann bist du gerade eben von einem Kriegsschiff geflüchtet, desertiert womöglich. Wahrscheinlich hat man dir kurz vor dem Sprung ins rettende Wasser noch eine Kugel verpasst. Daher die Verletzung und die Schmauchspuren in deinem Gesicht. Und du kamst in den Laden, weil du dich vor den Rotröcken verstecken wolltest, die dich jetzt suchen und am höchsten Fahnenmast aufknüpfen werden, wenn sie dich finden. Stimmt das soweit?«

Der Junge war derart erstaunt über die Beschreibung, die Robert gegeben hatte, dass er sich auf der Stelle umdrehte und wegrannte, aus Angst er könnte einem Fänger oder einem heimlichen Rotrock auf den Leim gegangen sein. Offenbar hatte Robert nicht nur ungefähr ins Schwarze getroffen, sondern exakt die Begebenheit der letzten Stunden wiedergegeben, und das machte dem Jungen mehr Angst, als er momentan zu ertragen im Stande war. 

»Warte, bleib’ stehen« rief ihm Robert hinterher. »Es ist mir egal, was du angestellt hast. Komm’ zurück.« Doch der Junge blieb nicht stehen, sondern rannte wie der Teufel die Straße hinauf und um die nächste Häuserecke. »Tja, schade« dachte Robert. »Da ist mir doch glatt die Begleitung abhanden gekommen. Dann war Sie wohl doch nicht daran beteiligt? Und mit wem teile ich jetzt den Proviant? … Na ja, besonders unterhaltsam war er ja eh nicht« waren seine letzten Gedanken, bevor er seinen Karren langsam in Bewegung setzte und in Richtung Hafen fuhr.

Kurz darauf, Robert war noch nicht allzu weit gefahren, kam der Junge wieder um die gleiche Ecke gerannte, diesmal aber aus der anderen Richtung und jetzt noch schneller, als schon zuvor. Und ohne ein Wort oder ein Zeichen der Erklärung zu verlieren, sprang er mit einem gekonnten Satz hinten auf den Pferdekarren auf und versteckte sich dort unter dem Proviant.

»Na was. Da bist du ja wieder« sagte Robert verwundert. »Und was hat deine Meinung geändert?« fragte er. Doch der Junge antwortete ihm nicht, sondern kroch unauffällig weiter bis hinter die Sitzbank. Als sich Robert umdrehte, um zu sehen vor wem sich der Junge versteckte, sah er etwa zehn Rotröcke um die gleiche Ecke marschieren, die der Junge zuvor schon genommen hatte. Sie gingen im Gleichschritt und waren bewaffnet mit Musketen und Bajonetten. Aber sie schienen kein Interesse an einem kleinen Dreikäsehoch oder Robert’s Karren zu haben, so dass er die Fahrt einfach fortsetzte und sich nicht weiter darum kümmerte. »Du kannst rauskommen.« sagte er. »Sie interessieren sich nicht für dich.« Doch der Junge blieb in seinem Versteck – er zitterte am ganzen Leib.

»Merkwürdig« dachte Robert. Er wurde aus seinem Verhalten noch nicht ganz schlau und er konnte nur vermuten, dass er mit seiner Geschichte nicht ganz falsch lag. Bestätigt hatte der Junge sie jedenfalls nicht, aber auch nicht verneint. Eigentlich hatte er überhaupt noch nichts gesagt.

Die beiden durchfuhren das alte Viertel in Richtung Hafen, und Robert überlegte, ob er vielleicht mit seiner Vermutung völlig danebengelegen hatte. »Vielleicht ist er auch einfach nur ein sturer Hund« dachte er und lenkte den Karren durch eine kleine abschüssige Gasse, über der ein Torbogen ihren Weg kreuzte.

Neben ihnen standen in einer Reihe fort, alte Fachwerkhäuser. Zu beiden Seiten begrenzten sie die Straße und den Rinnstein, der in der Mitte abschüssig zur Themse lief. Ein kleiner Junge, mit blonden Haaren, stand mit dem Rücken zu ihm auf dem Rand eines Torbogens, der in vier oder fünf Metern Höhe die Straße überquerte. Er hatte seine rote Hose heruntergelassen und fuchtelte gerade nervös an seiner Unterhose herum. Robert, noch immer völlig in Gedanken, starrte nur auf die vor ihm liegende Straße und beachtete den Jungen erst gar nicht. Plötzlich, und ohne dass Robert eine Vorahnung gehabt hätte, dreht sich der kleine Junge zu ihm um und pinkelte eilig dem Torbogen hinunter. Er zielte scheinbar genau auf den unter ihm fahrenden Karren, auf dem Robert gerade noch rechtzeitig das Pferd zum Galopp antreiben konnte. Nur eine Sekunde später begann es hinter ihm auch schon gelb zu regnen.

»Das war knapp« lachte er, und blickte sich um. Der stumme Junge schaute angeekelt zu ihm rüber und zum ersten Mal schmunzelte er. »Na endlich, eine Regung« sagte Robert froh. »Gefühle zeigen kannst du also auch. Komm nach vorne und trockne dich erst einmal ab.« Doch der kleine Junge schüttelte nur den Kopf und blieb stattdessen auf der Ladefläche sitzen. Er lächelte, trotzdem hatte er immense Angst – das konnte man deutlich sehen.

Robert drehte sich wieder um und fuhr weiter. Langsam näherten sie sich dem Hafen. Die Straßen wurden enger und die Häuser wurden älter und wirkten verfallener. Je näher sie dem Fluss kamen, desto länger standen die Häuser schon, und desto baufälliger waren sie. Außerdem stank es hier sehr nach Exkrementen, denn alle Rinnsteine wurden an diesem Ort zusammengeführt und das darin Beförderte wurde zum größten Teil in die Themse geleitet. »Noch viel länger kann das so nicht gut gehen« dachte Robert. Jahr für Jahr wurden die Seuchen schlimmer und die Krankheiten nahmen an Zahl und Gestalt zu. Einige Heiler befürchteten schon, dass sich die Cholera mit der Zeit ausbreiten könnte. Es gab sogar welche, die die Pest ankündigten, und die forderten daher auch eine schnelle Lösung für das Abwasserproblem der Stadt. London war in den letzten Jahrzehnten derart schnell angewachsen, dass es die Mengen an Unrat nicht mehr bewältigen konnte.

Robert lenkte den Wagen jetzt hastig um eine Ecke, die zur Themse führte, damit sie dem erbärmlichen Gestank schnell entfliehen würden.

»Wir sind bald da« sagte er. »Am Hafen werden wir, falls du überhaupt noch willst, ein Schiff nehmen und aufs Festland übersetzen.« Der Junge nickte bedächtig. Robert sah ganz deutlich, dass ihn etwas beunruhigte. Er bemerkte die Angst, die sich seit der letzten Wegbiegung, in den Augen des Jungen auftat. Das blanke Entsetzen schien mittlerweile durch seine Pupillen zu kommen und blass wurde seine Haut. Es war offensichtlich, dass der Anlass für die Angst des Jungen direkt vom Hafen kam.

Mehrere Schiffe lagen am Ufer, als sie den Kai erreichten. Neben einem großen Dreimaster der königlichen Marine standen etwa zwanzig Rotröcke und suchten gezielt nach jemanden oder etwas. Vor den Baumwollballen, die gestapelt am Rand der Lagerhäuser aufgereiht waren, hatten sich bereits zwei Schlangen formiert, in der ein Wagen hinter dem anderen eine Gasse bildeten. Einige Soldaten durchsuchten die wartenden Karren und stellten unangenehme Fragen. Manche stocherten sogar mit ihren Bajonetten in den transportierten Waren herum, die auf den Pferdewagen mitgeführt wurden. Robert hielt den Wagen an und drehte sich zu dem Jungen um. »Sie suchen nach dir, nicht wahr?« Er wartete nicht auf die Antwort, sondern griff sofort nach einem Sack, der hinter ihm auf der Ladefläche des Karrens lag. Er war ebenfalls patschnass von der Begegnung mit dem kleinen Jungen und es roch noch immer sehr streng nach ihm. Robert wollte das ausnutzten und meinte deshalb: »Hier … kriech darunter und leg dich zwischen die anderen Säcke. Sie werden sie nicht anfassen.«

Der Junge tat was ihm gesagt wurde und hielt den Atem an, während Robert sich umdrehte und den Wagen unauffällig wieder in Bewegung setzte. Direkt auf die Rotröcke zusteuernd, stellte er sich wie alle anderen auch an die hinterste Stelle einer der beiden Schlangen an und wartete darauf, durchsucht zu werden. »Lieg’ jetzt ganz still und bring’ deine Zähne zum Schweigen« bemerkte er noch schnell bevor der erste Soldat zu ihrem Wagen kam. Misstrauisch beäugte er Robert’s Karren, der mit allerlei Gütern beladen war.

»Wie ein fahrender Verkäufer seht ihr nicht aus. Was habt ihr geladen und wo wollt ihr hin damit?« fragte der Soldat streng.

»Proviant und zur King George, wenn’s recht ist« gab Robert zu verstehen.

»Ein bisschen viel für eine Person« sagte der Soldat. »Meint ihr nicht auch?«

»Ich habe eine lange Reise vor mir und möchte nicht durch zusätzliche Einkäufe aufgehalten werden.«

»Wo soll’s denn hingehen?« fragte der Soldat nach, denn er hatte das Flattern in Robert’s Stimme bemerkt.

»Nach Italien. Zu einem Freund.«

»Soso, bis nach Italien. Ein weiter Weg … Na gut. Habt ihr einen dreckigen kleinen Schiffsjungen gesehen, der in zerrissenen Kleidern herumläuft?« fragte der Rotrock nach, während er mit seinem Bajonett zwischen den Beinen von Robert herumfuchtelte. Ein zweiter Soldat war bereits auf den hinteren Teil des Wagens aufgesprungen und arbeitete sich gerade bis zum Sitzbock des Karrens vor. Während der erste Rotrock Robert’s Füße durch die Gegend schob, um mit seiner Muskete unter dem Sitz zu suchen, hatte der zweite offenbar schon etwas gefunden. Der Soldat holte aus und stach mit seinem Bajonett zu. Robert erschrak und sein Gesicht wurde blass vor Angst, denn die Schneide war auf Widerstand gestoßen, genau da wo der Junge lag. Es rührte sich aber nichts unter dem Sack und kein Laut war zu hören. Vielleicht war es bereits zu spät und der Junge war schon tot, oder aber, der Hieb hatte sein Ziel verfehlt. Ungewissheit gepaart mit Furcht stand in Robert’s Gesicht, als er sah, dass der Soldat zu einem weiteren Streich ausholte. Er umklammerte die Zügel etwas fester, bereit sofort loszufahren und zu flüchten, falls nötig. »Das hab’ ich allerdings« antwortete Robert schnell auf die Frage des ersten Soldaten. »Vor etwa einer halben Stunde in Sir Lorradal’s Kramladen in der Salsburyroad. Hatte eine dreckige Fresse und Blut an der Backe. Er sah aus wie ein begossener Pudel.«

»Dann hast du ihn wohl mitgenommen. Hier riecht’s nämlich genauso« sagte der Soldat auf der Ladefläche und wollte zustechen.

»Das ist er« schrie der andere. »Alles hierher. Wir haben ihn«. Robert gerann das Blut in den Adern, darauf wartend, dass der Junge unter dem Sack hervorgeholt wurde. Die anderen suchenden Soldaten rannten auf den Schreienden zu und warteten auf weitere Befehle, als Robert gerade den Wagen in Bewegung setzten und flüchten wollte, aber dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Der Soldat auf der Ladefläche stach nicht zu und er enthüllt auch nicht den Jungen, sondern sprang stattdessen einfach vom Wagen runter. Dann reihten sich alle Soldaten auf, es gab ein Kommando und die ganze Mannschaft rückte ab, in Richtung altes Hafenviertel. 

Im Gegensatz zu dem, was Robert zunächst vermutet hatte, waren die Rotröcke noch nicht erfolgreich gewesen. Allerdings glaubte der Offizier, dass er den Jungen auf Grund von Robert’s Beschreibung bald finden würde. Um ein Haar wäre die Reise vorbei gewesen, ehe sie überhaupt begonnen hatte, und das Leben des Jungen, und sein’s wahrscheinlich auch, wären auf der Stelle verwirkt gewesen. »Wow« entkam es Robert erstaunt und froh zugleich. »Das war ja schon wieder ziemlich knapp.«

Als die Soldaten außer Sicht waren, sprang er vom Wagen und zog den stinkenden Sack hervor. Der Junge lag still und zusammen gekauert neben und – Gott sei Dank auch – unter den anderen Säcken. Er hatte die Augen geschlossen und verzog keine Miene, aber er blutete. Es war eine tiefe Wunde am Arm, die ihm der Soldat beigebracht hatte. Sie war nicht lebensgefährlich, aber sicher äußerst schmerzhaft und würde eine Narbe hinterlassen. Die Disziplin des Jungen war beeindruckend. Nicht ein einziges Jammern oder Ächzen kam über seine Lippen, als er den Stich mit dem Bajonette ertragen musste. Und jetzt, da sie weiterfuhren, ließ sich der Junge ebenfalls nicht helfen. Er blieb auf der Ladefläche liegen, hielt sich den Arm und nur sein Kinn, das er kurz nach vorne gehoben hatte, zeigte an, dass er noch immer bereit war, die Reise fortzusetzen.

Robert hatte eine Kabine auf der King George, einem Zweimaster, erstanden, in der auch der Junge Platz finden konnte. Eigentlich wollte er sich gleich um die Wunde des Jungen kümmern, doch der erlaubte es erst, als alles verstaut war und das Schiff abgelegt hatte. Es war nicht ganz so schlimm, wie er zunächst vermutete hatte, doch die Wunde blutete noch immer, und Robert verband sie mit einem altbewährten Hausmittelchen – einem Kräuteraufstrich, dessen Zusammenstellung er von einer alten Freundin erlernt hatte.

Am nächsten Morgen waren sie bereits einige Meilen Flussabwärts unterwegs. Immer westwärts Richtung Küste. Ab und zu, wenn der Wind nicht richtig stand oder die Fahrrinne noch zu seicht zum Segeln war, wurde mit Pferden am Wegesrand nachgeholfen. Dann ging es nur mühsam voran. Aber schließlich erreichten sie nach drei Tagen in Southend die offene See, wo der Kapitän sofort alle Segel setzten ließ und es dann mit großer Fahrt Richtung Frankreich ging. Der Junge war vorerst in Sicherheit, wenn er auch keine Ahnung hatte, wohin er mit Robert eigentlich unterwegs war.