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Avignon, ehemaliger Sitz des Papstes und Residenz des Königs
1448 anno Domini, Winter
Es hatte erst vor kurzem geschneit und über den Dächern von Avignon lag eine dichte Decke aus schimmernden Schneeflocken. Zierlich weiß schoben sich ab und zu kleine unscheinbare Wölkchen vor den Sternenhimmel und verdeckten dabei die Sicht auf die hell leuchtenden Sternzeichen. Manchmal sah man schlierenartig das Wetterleuchten am Himmel, was in letzter Zeit doch immer häufiger zu sehen war. In dieser Gegend – soweit südlich – war das eigentlich ungewöhnlich. Wenn man ganz genau hinschaute, konnte man sogar sehen, wie die Engel die Sterne zum Glänzen brachten, weshalb dessen hellgelbes Licht dabei ständig zu Flackern schien. Sie funkelten besonders hell und schön in eiskalten Nächten und derer waren es zuletzt sehr viele. Herrlich gemütlich kam dann der Duft von Eichenholz aus den Kaminen und hüllte die Stadt in einen angenehm warmen Dunst.
Der Fluss – die Durance – war zum Teil schon zugefroren, was das Arbeiten zwar wahrlich nicht leichter machte, doch der Anblick von bunten sich im Eis spiegelnden Häusern war Entschädigung genug für den Mehraufwand, den die Kälte mit sich brachte. Wären die Zeiten nicht so brutal real gewesen und hätten die Bewohner zuletzt nicht ständig frieren müssen, weil das Brennholz mal wieder knapp war, dann hätten sich in der heutigen Nacht vielleicht sogar ein paar warme Träume erfüllt. Träume, wie sie kleine Kinder manchmal haben. Träume, die sie forttragen in die Gegenden eines Zauberreiches mit bunten Gnomen und fliegenden Feen. Doch heute saßen die Kinder in Avignon nur vor den Fenstern und sie schauten hinaus auf den verschneiten und eisigen Fluss. Das träumen war ihnen in dieser Woche schnell vergangen, denn allzu eilig kam mal wieder die eiskalte Nacht. Eng aneinander gedrängt schliefen die Familien in einem kargen Bett aus Stroh und Laken, das Feuer in Gang haltend und ständig versuchend ein Auge zuzumachen und etwas Schlaf zu bekommen. Doch der frostige Winter war in diesem Jahr übermächtig geworden. In dieser Nacht war an Schlaf nicht zu denken.
Auch Julie saß nur still an ihrem Tisch und aß ohne einen Gedanken ihr Abendbrot. Für Holz hatte sie gestern noch gesorgt, so dass das Feuer herrlich warm loderte. Sie lebte alleine, ohne Mann, in einem kleinen Haus, in das sie sich vor etwa drei Jahren eingemietet hatte. In ihrem kargen Raum mit Kamin und Bett, lagen neben ihr auf der Sitzbank drei große Haufen mit weißer Wäsche. Es war schon spät am Abend – vielleicht um Mitternacht – sie hatte gerade das Bettzeug von drei betuchten Familien fertig zusammengelegt, da überkam sie ein Anfall von Müdigkeit. Am liebsten wäre sie gleich hier, an Ort und Stelle, eingeschlafen, auf dem Stuhl, auf dem sie saß. Doch sie musste etwas essen, bevor der nächste Tag wieder nur noch mehr neue Arbeit bringen würde. Eine Feier stand an und der Domprobst hatte zur Hochzeit seiner Tochter geladen. Da war Arbeit in Hülle und Fülle vorhanden.
Ohne Appetit zwängte Julie sich gerade einen kleinen Happen in den Mund, dabei dachte sie an ihren Vater, als plötzlich die Tür aufflog und eine kleine Frau, völlig außer Atem, in ihr Haus trat. Es war eine Dirne – das war unschwer zu erkennen – ihre Aufmachung verriet dies und ganz offenbar hatte sie es nicht nötig, anzuklopfen.
»Schnell, Madame« rief sie. »Kommt bitte schnell mit. Mein Mann liegt im Sterben«. Die Frau schloss die Tür von innen – ziemlich hektisch – wartete dann aber geduldig ab, was die Julie ihr antworten würde.
Julie schaute etwas ärgerlich drein, denn wieder einmal hatte sie vergessen, ihre Eingangstür abzusperren. »Wo?« fragte sie und zog sich ihren Umhang enger um ihre Beine, weil die hereingelassene Kälte bereits bis zu ihren Füßen vorgekrochen war.
»Er liegt in meiner Wohnung. In der Rue de la Vaucluse. Das alte Fachwerkhaus am Torbogen. Gleich neben der Kirche. Zweiter Stock. Schnell, Madame. Bitte helfen sie ihm« flehte die Dirne. »Er stirbt … glaube ich.«
»Ich komme. Gehen sie vor« sagte sie, stand auf und zog sich ihren Mantel über. Ihr Abendmahl ließ sie stehen, stattdessen griff sie nach ihrer Tasche und einer Öllampe. Die beiden Frauen rannten hinaus, durch die Gassen von Avignon, an der Durance entlang, hoch bis zur Rue de la Paris und von dort über eine Brücke, über den Domplatz und hinein in die Rue de la Vaucluse. Direkt hinter dem Torbogen stand ein armseliges Fachwerkhaus, das schon lange einzustürzen drohte. Die Frau öffnete die Tür und rannte den Treppenaufgang hinauf bis in den zweiten Stock. Julie folgte ihr einfach, ohne weitere Fragen zu stellen. Dann wurde die Wohnungseingangstür geöffnet und heraus kam ein ekelerregender Geruch. Die Dirne ging zuerst hinein, als ob ihr der Gestank nichts ausmachen würde. Julie dagegen hätte sich fast übergeben und blieb deshalb eine Zeit lang vor der Tür stehen. Sie wendete sich ab und zog dann eine Salbe aus ihrer Tasche, die sie auf ihre Oberlippe rieb, direkt unter ihre Nasenöffnungen. Kurzzeitig verzog sich dabei ihr Gesicht zu einer grotesken Fratze, doch dann lockerte sie ihre Züge wieder, und trat ebenfalls in die Wohnung hinein.
Eigentlich war es gar keine Wohnung. Genauso wie bei Julie selbst, handelte es sich eher um ein kleines Zimmer, in der eine winzige Kochnische und ein Bett untergebracht waren. Im Letzteren lag ein Mann Mitte Vierzig, der sich kaum noch bewegte. Julie stellte ihre Lampe auf den Beistelltisch, ging zum Fenster, riss die Vorhänge auf und öffnete es. Dann erst ging sie zu dem Kranken ans Bett. Sie setzte sich neben ihn und fühlte seine glühende Stirn, dann seinen Puls, der kaum noch zu spüren war. Er lag im Fieber und drehte seinen Kopf hin und her, als er von ihr untersucht wurde. »Er zeigt noch Regung. Dann ist noch nicht alles verloren« stellte sie fest und zog vorsichtig die Bettdecke auf. »Allmächtiger« rief sie, sprang von der Bettkante weg und bekreuzigte sich.
Julie hatte nicht nur den Korpus des Mannes aufgedeckt, sondern gleich auch noch sein halbes Inneres. In seiner Bauchdecke klaffte ein Loch, so groß wie eine Rummel. Das war damals das althergebrachte Wort für eine Futterrübe, für Menschen kaum genießbar. Sie wurde normalerweise angebaut, um die Schweine damit zu füttern, aber ab und zu auch um den eigenen Magen zu füllen, wenn mal wieder das Geld knapp wurde.
Julie untersuchte die Wunde. Der Magen und Teile des Darms lagen mehr oder weniger frei und waren überströmt von gelblichem Eiter. Die Wunde brannte, wodurch natürlich auch das Fieber ausgelöst wurde. Die Säfte verteilten sich schon in der Bauchhöhle. »Wie kann er noch leben?« fragte sie sich insgeheim, als sie den Bauchraum vorsichtig abtastete und sich sämtliche Flüssigkeiten über ihre Finger ergossen. »Es ist wie ein Wunder. Solch eine Verletzung überlebt man normalerweise nicht lange« dachte sie und schaute sich die entzündeten Organe an. Es musste schon ein paar Stunden her sein, so wie der Innenraum aussah. »Wie ist das nur passiert?« fragte sie. »Nein. Sagen sie nichts. Ich will es gar nicht wissen« schob sie gleich hinterher. »Besser, ich weiß es nicht« dachte sie. Sehr wahrscheinlich hätte sie sich mit jeder zusätzlichen Information über diesen Unfall, oder was es auch immer war, nur noch mehr Ärger eingehandelt. Dass sie für das hier Ärger bekommen würde, stand eigentlich schon jetzt fest. »Gerade läuft alles noch gut, und dann …« dachte sie »… und dann kommt sowas.«
Allein die Tatsache, dass sie bereits in das Haus der Dirne mitgekommen war und nun hier saß, reichte für Heiler meist schon aus, diese anzuklagen. Es gab eigentlich immer nur drei mögliche Ausgänge, aus solchen Situationen, die aber alle fast immer aufs Gleiche hinausliefen. Wenn der Mann sterben würde, was in diesem Fall mehr als wahrscheinlich war, würde sie von seiner Frau angeklagt, ihn umgebracht zu haben. Das war eigentlich der Normalfall, wenn einer der Kinder oder Ehepartner unter ihrem Messer starb. Wenn er es widererwartend doch schaffen würde, dann spräche sich das sehr schnell herum, und manch einer würde ihre Künste für Schwarze Magie halten. Und selbst wenn sie jetzt einfach nur heimgehen würde, ohne noch irgendetwas für den Sterbenden zu tun, würde sie sich wahrscheinlich dem Zorn der Dirne ausliefern, die ihr dann übel Nachreden würde.
Der Mann musste es schaffen, das war die einzige einigermaßen sichere Möglichkeit diese Situation selbst unbeschadet zu überstehen. Trotzdem, Überlebende waren nur manchmal dankbarer als Tote, weshalb sie ihrer Bestimmung nur versteckt und sehr heimlich nachgehen konnte, so wie es auch schon ihr Vater und dessen Vater getan hatten. Von den beiden hatte sie alles gelernt und nichts tat sie lieber, als ihrer wahren Bestimmung nachzugehen. Aber leider war das meist etwas gefährlich. Denn ein Medicus war sie nicht, aber gebraucht wurde sie umso mehr, denn die Wenigsten hatten genug Geld um sich einen professionellen Heiler leisten zu können. Und so tat sie, worum sie gebeten wurde. Es war eben ihre Bestimmung die Hilflosen medizinisch zu versorgen.
»Ich bin nicht sicher, ob ich hier noch viel ausrichten kann«, versuchte Julie die Dirne auf den Tod vorzubereiten.
»Bitte, tun sie etwas. Wenn er stirbt, bin ich auch so gut wie tot« flehte sie Julie an. »Er gibt mir Schutz vor den Freiern, und ein Dach über dem Kopf. Er darf nicht sterben.«
»Ich verstehe.« sagte sie. »Trotzdem gibt es nur wenig Hoffnung, aber wenigstens die will ich ihnen geben.« Julie stand vom Bett auf, und holte Papier, Feder und ein Tintenfass heraus. Dann setzte sie sich an den Tisch, schrieb etwas auf den Zettel und gab es der Frau. »Geh’ zum Medicus und gib ihm dieses Papier.«
»Aber ich kann nicht lesen«, entgegnete die Dirne.
»Das wird auch nicht nötig sein, gib ihm nur den Zettel. Er wird dir einige Dinge mitgeben. Bring’ sie zu mir«, sagte Julie.
»Aber das kann ich mir nicht leisten, so viel Geld habe ich nicht« erwiderte die Dirne abermals.
Julie schaute mit verzogener Miene zur Dirne und kramte dann in ihrer Tasche »… hier, nimm das. Das sollte ausreichen. Für den Rest kaufe Brandwein … und schicke mir eine deiner Kolleginnen hinauf. Am besten eine, die nicht gleich umkippt und was vertragen kann. Sie soll mir zur Hand gehen, bis du wieder zurück bist. Aber beeile dich, wir haben nicht viel Zeit.« Die Dirne wollte gerade das Zimmer verlassen, als Julie noch einmal nachfragte. »Noch etwas … wo bekomme ich hier sauberes Wasser?«
»Sauberes Wasser? Nur am Fluss. Ich werde jemanden danach schicken« sagte sie, drehte sich um und ging hastig die Treppe hinunter.
Kurze Zeit später kam eine stämmige Frau die Treppe hinauf. Sie hatte sehr kräftige Oberarme und doppelt so dicke Schenkel. Ihr Hintern und ihre Brüste waren mächtig ausstaffiert und kaum zu übersehen. Die Frau war tatsächlich eine Kollegin der Dirne, denn ihr rot gefärbtes Haar fiel lässig auf ihre breiten Schultern, während ihre Brüste ein wenig über das enganliegende Kleid hinausragten. Und diese hier übte ihr Geschäft schon etwas länger aus, denn ihr Gesicht glich mehr einem runzligen Apfel als einem pelzigen Pfirsich.
Die Alte hatte einen Eimer mit Wasser in der Hand, den sie gleich am Kamin abstellte. »Ihr braucht mich?« fragte sie hart und blickte auf den Bauch des Mannes. Gleichzeitig nahm sie einen kräftigen Atemzug, hielt sich am Rand des Kaminsimses fest, senkte den Kopf vorneüber und übergab sich in hohem Bogen in die Ecke.
»Gut« sagte Julie. »Das hätten wir also auch schon erledigt. Dann kannst du mir ja jetzt helfen.«
»Verzeiht mir« erwiderte die Alte verlegen.
»Du musst dich nicht grämen, das geht vielen so. Und jetzt brauche ich heißes Wasser. Schnell« sagte Julie, die dem Mann gerade im Bauch herumwühlte und die Därme zu ordnen versuchte. »Mach Feuer und leg‘ zwei Zähne zu.«
Die beleibte Dirne legte Holz nach, fachte das Feuer neu an und hing einen Topf an den Schwenkarm, den sie zuvor mit Wasser gefüllt hatte. Dann schob sie diesen über die Feuerstelle und hängte ihn wie befohlen zwei Zähne tiefer. »Kann ich noch etwas tun, Madame?« fragte sie und blickte ehrfürchtig zu Julie.
»Allerdings. Ich brauche Tücher, saubere«, antwortete sie und suchte dabei aufgeregt in ihrer Tasche herum. »Hier, nimm… .«
»Ich werde welche besorgen« sagte die Dirne schnell und verschwand sogleich aus dem Zimmer. Nach zehn Minuten kam sie wieder und hatte weiße Bettlaken dabei, die sie ganz offenbar einer Waschfrau von der Leine gestohlen hatte. »Wird das gehen?« fragte sie Julie, die sie daraufhin äußerst misstrauisch anschaute.
»Von welcher Leine hast du sie genommen?« greinte Julie verärgert, aber die Dirne antwortete ihr nicht, sondern schaute nur verlegen in ihr Gesicht.
»Ich denke, es wird gehen. Zerreiße die Laken in dünne Streifen und bade sie im heißen Wasser.« Die ertappte Alte tat, was ihr gesagt wurde und verließ das Haus erst, als ihre Freundin wieder vom Medicus zurück war.
»Ich glaube, ich habe alles bekommen, was ihr aufgeschrieben habt, auch den Brandwein. Soll ich ihm den jetzt geben?« fragte sie.
»Nein. Um Gottes Willen. Er darf nichts trinken und schon gar nichts essen. Nicht vor morgen Abend, wenn er dann noch lebt, was ich bezweifle« sagte Julie hastig. »Und jetzt stell das hier neben mir ab … komm, setz dich zu mir.« Julie sah der Dirne tief in die Augen und nahm dann ihre Hände und legte sie in ihre eigenen. »Es wird jetzt etwas unangenehm, aber es lässt sich nicht vermeiden. Wir müssen ihn reinigen … von innen und dabei den Wundbrand stillen.« Dabei suchte sie in den Augen der Dirne nach einer Reaktion. Tiefe Furcht und ungläubiges Staunen blickte ihr entgegen. »Schaffst du das, oder soll deine Freundin es machen?«
Die Dirne schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, ich schaffe das.«
Julie war überzeugt, dass der Mann sterben würde, aber auch wenn er diese Prozedur überlebte, wäre es in jedem Fall das Beste, wenn die Dirne dabeistehen und mithelfen würde. Auf diese Weise wäre sie jederzeit im Bilde und die Wahrscheinlichkeit für eine fälschliche Unterstellung, Schwarze Magie angewendet zu haben, schien deutlich geringer. Nur so bestand Hoffnung noch einmal heil aus der Sache herauszukommen.
Nachdem sich Julie ihr bedingungsloses Vertrauen gesichert hatte, gingen die beiden ans Werk. Zunächst hielt die heimliche Heilerin dem Mann ein Fläschchen mit einer rotgelben Substanz unter die Nase, wodurch er augenblicklich die Besinnung verlor und sich nicht mehr rührte. »Das ist Mohn und etwas Binsenkraut, vermischt mit Mandragora. Du kennst es als Alraune. Es wächst hier überall und es hilft bei Schmerzen und lässt Kranke schlafen. Er wird nichts spüren und es hat nichts mit Magie zu tun, verstehst du?« Die Alte nickte. »Nimm jetzt einen der Wäschestreifen und leg es deinem Mann auf Nase und Mund.« Die Frau tat, was ihr aufgetragen wurde und Julie träufelte noch etwas von der Substanz auf das benetzte Tuch.
»Bist du bereit?« fragte Julie die Dirne noch ein letztes Mal und sie nickte stillschweigend. »Sieh dir gut an, was ich jetzt tue« ermahnte die Heilerin, und versicherte sich so noch einmal der Loyalität der Dirne.
Julie griff in den Bauch hinein und nahm den Darm in die Hände, säuberte in und legte Teile davon an die Seite. Neben den Gedärmen, die jetzt teilweise außerhalb des Mannes lagen, strömte auch überall Eiter, Blut und Brandsaft in dem Bauchraum. Julie versuchte das wässrige Gemisch mit den heißen Tüchern aufzusaugen und so die Entzündung zu lindern. »Jetzt kommt das Schwierigste. Wir müssen den Darm reinigen, die Holzsplitter entfernen und die Wunden nähen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er das nicht überleben wird« sagte sie und die Dirne blickte voll Furcht in Julie’s tiefblaue Augen. »Gib diese Kräuter in den Topf mit Wasser und koche sie gründlich. Dann tunke die Tücher noch einmal darin und umwickle den Darm damit. Das wird die Entzündung etwas lindern. Ich werde derweil versuchen die Splitter zu entfernen.«
Julie konnte sich keinen Reim darauf machen. Ein so großes Loch im Bauch und dann auch noch überall diese Splitter. »Wie um Himmels Willen kann so etwas passieren?« fragte sie sich, als sie die Wunden im Darm zu schließen versuchte. Es musste eine äußerst stumpfe Waffe – vielleicht ein Holzbalken – gewesen sein, der ihm mit großer Gewalt in den Magen gerammt worden war – der war nämlich ebenfalls mit Splittern durchsetzt und mit Blutergüssen überzogen. Zum Glück war er nicht gerissen. Das hätte niemand überlebt.
»Ein Turnier vielleicht« dachte sie. Sie hatte schon mal davon gehört, dass ab und zu auch Bauern Turniere veranstalteten, dann meist auf einem Esel oder einer Kuh, und anstatt einer richtigen Lanze wurden stumpfe Äste verwendet, oder statt Schwertern auch mal eine Mistgabel oder Äxte. Aber das waren nur Gerüchte, und bisher hatte sie das für puren Unsinn gehalten. Beobachtet hatte sie so etwas jedenfalls noch nie, und außerdem hatte man doch andere Dinge zu tun, die wichtiger waren, als Ritter zu spielen. Immerhin waren die ja auch schon seit der Erfindung der Armbrust fast gänzlich verschwunden und daher eigentlich gar keine richtigen Vorbilder mehr. Doch jetzt, da sie ein solches Loch vor sich hatte, war sie sich nicht mehr sicher. Vielleicht gab es diese Bauernspiele tatsächlich, aber »… wie schnell muss denn ein Esel rennen, damit man mit einem stumpfen Ast eine solche Wunde reißen kann?« fragte sie sich. Julie hatte keine Erklärung für diesen merkwürdigen Vorfall. Andererseits hatte sie auch festgestellt, dass der Mann sturzbetrunken war. Er stank wie ein Fass Rum und ohne diesen hätten ihn die Schmerzen sicher schon lange umgebracht.
Vorsichtig schob sie ihre Hände in den Bauchraum und unter den Magen und wusch alles mit einer Mixtur aus Brandwein und Heilsalbe aus. Da der Mann sowieso schon halb tot und im Delirium war, merkte er nichts von dieser Prozedur. »Er hält sich gut. Vielleicht überlebt er es doch« sagte Julie verwundert. »Kannst du sehen, was ich tue. Es hat nichts mit Schwarzer Magie zu tun.« Die Dirne nickte und ließ wieder etwas Brandwein von oben in den Bauchraum hineintropfen, damit Julie diesen zum Reinigen verwenden konnte, ohne dafür die Tücher oder ihre Hände aus dem Mann herausnehmen zu müssen. Jede unnötige Bewegung musste unbedingt vermieden werden. »Das machst du sehr gut« lobte Julie und schnürte das Band zwischen ihnen enger.
Der Bauch war mittlerweile schon einigermaßen sauber und frei von dem ekelerregenden Eiter, als sämtliche offenen Wunden erneut zu saften begannen. »Das wird heute Nacht noch öfter so gehen« versprach Julie und wusch den Lappen im heißen Kräuterwasser aus, bevor sie erneut mit der Reinigung begann. Nach fünf Stunden lebte der Mann noch immer und endlich gaben die Wunden ein wenig Ruhe. »Er hat gute Aussichten« sagte sie und öffnete einen Beutel mit Paste, den sie in ihrer Tasche hatte. Dann schmierte sie mit dessen Inhalt den Innenraum des Bauches aus, nahm sich anschließend noch einmal den Darm vor und wusch ihn zum Schluss wieder mit Brandwein ab. »Er wird nicht mehr ganz der Alte werden, das ist dir hoffentlich klar.«
Die Dirne nickte und entgegnete zufrieden »… wenn er nur lebt.« Ein kleines Lächeln zeichnete sich auf ihren Lippen ab.
»Noch hat er es nicht geschafft, aber hoffen kannst du wieder. Die Salbe wird die Wunden vorerst beruhigen, aber der Bauch muss heute Nacht offen bleiben« erwiderte sie. »Es wird nicht das letzte Mal sein, dass wir ihn reinigen müssen.« Und tatsächlich mussten die beiden den Mann in dieser Nacht noch dreimal von den Flüssigkeiten befreien und die Wunden beruhigen.
Aber am nächsten Morgen, der Mann lebte noch immer, war der Wundbrand abgeklungen. »Die Verletzungen eitern nicht mehr« stellte Julie zu ihrer eigenen Verwunderung fest. Die Operation war besser gelungen, als sie selbst zu hoffen gewagt hatte. Noch vor einigen Stunden hätte sie keinen Centime auf das Überleben des Mannes gewettet, doch dass er die Nacht überstanden hatte, ließ sie hoffen. »Wir können den Bauch jetzt verschließen. Danach bleibt uns nur das Warten« sagte sie und begann dann einen Faden auf die Nadel aufzuziehen. Als der Bauch geschlossen war, rieb sie ihn mit Brandwein sauber und legte Salbe und Kräuter auf die Naht. »Du musst das dreimal am Tag und dreimal in der Nacht machen. Wenn er Morgen noch lebt, hat er gute Aussichten auch die nächste Woche zu überleben« sagte Julie. »Aber decke ihn nicht mehr zu. Die Wunde muss Luft bekommen, und gib auch dem Zimmer etwas Luft. Auch wenn es draußen kalt ist, sollte das Fenster ab und zu geöffnet sein. Leg’ lieber mehr Holz auf … Falls es wieder zu eitern beginnt, rufe mich noch einmal. … Hier nimm auch etwas von meinem Opiat, er muss bis morgen schlafen. Träufle es alle fünf Stunden auf Nase und Mund. Und wechsle die Tücher regelmäßig.«
»Wie kann ich das je wieder gut machen?« fragte die Dirne und schaute Julie ehrfürchtig an.
»Besorge dir einen anderen Beruf, und bezahle mich dann aus deinem ersten Lohn« antwortete sie und ging erschöpft nach Hause. Dort wartete schon eine neue Ladung Wäsche auf sie.